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Mehrere hundert Millionen haben das dreiteilige Filmepos "Der Herr der Ringe" gesehen. Die Leserschaft der literarischen Vorlage zählt zwar ebenfalls viele Millionen, dürfte aber dennoch weit geringer sein als die Anzahl der Kinobesucher und DVD-Betrachter des Films. Inzwischen gibt es zudem mehr Leute, die (mehrmals) den Film und dann erst das Original von J.R.R. Tolkien gelesen haben. Deren Zugang an das Werk Tolkiens ist also ganz anders als der von Tom Shippey - nichtsdestotrotz fände dieser es sehr interessant, gerade auch von ihren Vergleichen zwischen Film und Buch zu erfahren ...
Der Mediävist Tom Shippey war Professor für englische Sprache und Mittelalterliche Literatur in Leeds, auf einem Lehrstuhl, den auch Tolkien zu Beginn seiner akademischen Laufbahn innehatte. Wie kaum ein zweiter hat sich Shippey jahrzehntelang in das Leben und Werk seines Amtsvorgängers eingearbeitet. Auf Deutsch liegt seit 2002 die Studie J.R.R. Tolkien - Autor des Jahrhunderts vor, die jetzt von seiner überarbeiteten und aktualisierten Arbeit "Der Weg nach Mittelerde. Wie Tolkien 'Der Herr der Ringe schuf'" ergänzt wird. Setzte sich die erste Studie vermittels dessen Werkes und seiner Selbstzeugnisse vor allem mit dem Menschen und Autor Tolkien auseinander, untersucht Shippey nun in neun Kapiteln und einem gut hundertseitigen Anhang sehr instruktiv die Gestehungsgeschichte, die Vorgaben sowie die Reaktionen auf den Herrn der Ringe selbst.
Den Beginn setzt das Kapitel "'Lit.' und 'Lang.'", der Tolkiens jahrzehntelangen und zu seinen Lebzeiten meist vergeblichen Kampf erörtert, zwischen Literaturwissenschaftlern (Kritikern!) und Philologen bzw. Sprachwissenschaftlern ganz allgemein eine Annäherung untereinander zu befördern und was seinen Herr der Ringe angeht, beider sachgemäß kritische Anerkennung zu erlangen. In "Philologische Spuren" geht es um Tolkiens These (und seinen fulminanten Nachweis), dass eine philologische Herangehensweise an Dichtung, die u.a. von Wortbedeutungen und deren Herkunft ausgeht, nicht alles ausschließen muss, was man heute "literarisch" nennen würde.
In "Der Bürger als Meisterdieb" wird besagte These dann exemplarisch ausgeführt. "Wanderungen auf der Karte" sondieren ein weiteres Moment der "Tiefe" im Schaffen Tolkiens und es bezieht sich hierbei weniger auf das detailreiche Skizzieren von Landkarten zu seinen Werken als die "Kalkierung" (Lehnübersetzung) von einst oder aktuell tatsächlich genutzten Bezeichnungen ihm dafür zweckdienlicher Landschaften Englands. Das Kapitel "Verflechtungen und der Ring" nimmt u.a. Tolkiens Auffassungen zu 'Glück', 'Zufall' und insbesondere hinsichtlich eines 'Mutes' auf, der trotz wahrscheinlicher Niederlage seine Berechtigung behält. "Über Stock und Stein" behandelt Stilfragen, wie z.B. die Poesie des Auenlandes oder die "Romanze", aber auch Tolkiens Begründung für seine Ablehnung der Werke von Shakespeare. "Visionen und Revisionen" behandelt Tolkiens "Simarillion", das mit dem Buch "Das Simarillion" eigentlich nur ein notgedrungenes Zwischenergebnis zeitigt. In "Wenn der Zauber vergeht" wird eine Wunschvorstellung Tolkiens benannt, die er aus einem philologischen Detail bezogen und schließlich aufzugeben hatte. "Im Verlauf der tatsächlichen Abfassung" geht es auch um z.T. irrationale Vorhaltungen, die sich auf die Zwischenstadien aber eben nicht veröffentlichten Versionen der Werke Tolkiens beziehen.
Im Nachwort heißt es schließlich: "Der Hauptzweck dieses Buches war es, Material für eine eingehendere und verständnisvollere Lektüre von Tolkiens Werk zu liefern." Also keineswegs nur von "Der Herr der Ringe", sondern auch von all den Werken, die von Tolkien zuvor und danach um dieses Epos herum geschaffen wurden.
Shippey versteckt sich hinter keinem Fachchinesisch und die Übersetzung von Helmut W. Pesch ist so kongenial wie eingängig. Aber all jene, die neben den bereits genannten auch noch kleinere Werke Tolkiens wie "Bauer Giles von Ham" oder "Blatt von Tüftler" gelesen und sich darüber hinaus außerdem auch schon mit Mythen wie dem des Beowulf auseinandergesetzt haben, werden gewiss den größten Gewinn aus dieser Studie ziehen. Die werden dann auch ihr besonderes Vergnügen an den im Anhang neben Anmerkungen und Register eingefügten vier "Sternchen"-Gedichten haben, die in einem von Tolkien nachempfundenen "Gotisch" und "Altenglisch" samt deutscher Übersetzung nachzulesen sind.
Weitere Besprechungen zu Werken von Tom A. Shippey siehe:
Tom A. Shippey: Der Weg nach Mittelerde
Tom A. Shippey: J.R.R. Tolkien - Autor des Jahrhunderts