buechernachlese.de
|
Manchen war die Klassengemeinschaft zum Schluß ganz egal. Sie
sind nur noch wegen des Unterrichts in die Schule gekommen. Andere hofften
auf immer neue Sensationen. Es sei hier ja zugegangen wie in einem echten
Krimi. Frau Beck war jedenfalls so enttäuscht von ihrer 9b, daß
sie mit dieser Klasse am liebsten nichts mehr zu tun haben wollte. Dabei
war sie letztes Jahr noch so begeistert davon, wie sie alle gemeinsam die
Klassenfahrt auf die Beine gestellt haben. Auslöser aller Zwietracht
war Sabines Füller. Seit ihr beinah 400 Mark teures Schreibwerkzeug
geklaut wurde, verstrich kein Tag ohne Beschuldigungen und Streitereien.
Langjährige Freundschaften gingen in die Brüche und zuletzt hätte
der ganze Wahnsinn David beinahe das Leben gekostet.
Diese Erzählung von Christian Waluszek ist eine beeindruckende
Paraphrase auf das zehnte Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.
Die Mischung in dieser von ihm vorgestellten Gymnasialklasse ist keineswegs
außergewöhnlich oder besonders brisant: Manche können es
sich leisten, mit teuren "Markenklamotten" Trendsetter zu spielen,
einer ist wegen auffälliger Verhaltensstörungen von einer anderen
Schule hierher "versetzt" worden, und ein Aussiedlerjunge aus Kasachstan
findet lange Zeit keinen Anschluß. Aber dann gibt ein (falsches)
Wort das andere. Dieser wortreichen Sprachlosigkeit verleiht der Autor
mit der Ich-Erzählerin Sabine eine glaubwürdige Stimme. Als unmittelbar
betroffener Teil des Geschehens ist sie natürlich Partei. Da Sabine
aber im Rückblick erzählt, vermag sie allmählich die Ereignisse
differenzierter darzustellen, ohne dabei je die Erkenntnismöglichkeiten
einer 15-jährigen überzustrapazieren. Nicht nur Gleichaltrigen
hält sie hier einen schonungslosen Spiegel vor. Auch die mittlerweile
Erwachsengewordenen wissen aus eigener Erfahrung, mit welcher Lust man
in diesem Alter aus einer Mücke einen Elefanten macht. Und sich dann
mit einer Halbwahrheit oder einen kleinen Lüge in Szene zu setzen,
gehört doch einfach dazu.
Waluszek tappt aber nicht in die Falle,
alsbald den moralinsauren Zeigefinger zu schwenken. Vielmehr legt er die
Mosaiksteine der Erkenntnis wie in einem Kriminalroman aus. Immer mehr
wird man von der anschwellenden Dramatik gefesselt und fiebert der letzten
Seite entgegen. Alle, angefangen von der Bestohlenen, über die Klassenlehrerin
bis hin zu dem Beinahe-Selbstmörder hatten ihren Anteil an dieser
Geschichte. Und so sind denn auch alle aufgefordert, ihre jeweilige Lösung
beizutragen.
Nicht zuletzt wegen der ausgezeichneten Sprachregelung kann
dieses Buch bereits Jugendlichen ab 12 Jahren und, wegen seines Umfangs
zumindest auszugsweise, auch für den Unterricht in der Mittelstufe
empfohlen werden.
Weitere Besprechungen zu Werken von Christian Waluszek siehe:
Christian Waluszek: Der Klassendieb (1997)
Christian Waluszek: Allgames (2010)