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Silvano Contin war Weinhändler und hatte zusammen mit seiner Frau und dem gemeinsamen achtjährigen Sohn ein beschauliches Leben geführt. Eines Tages jedoch wurden Frau und Kind zu Opfern eines Raubüberfalls in einem Jubiliergeschäft. Einer der beiden Täter nahm sie als Geiseln und tötete sie im Drogenrausch. Dieser Mann wurde inhaftiert, während der andere mit großer Beute entkam. 15 Jahre später reicht der nunmehr todkranke Häftling ein Gnadengesuch ein. Für Silvano Contin, der diese Zeit weniger gelebt als überlebt hat, eröffnet sich nun endlich die Möglichkeit zur Rache ...
Der italienische Krimiautor Massimo Carlotto, der laut Klappentext in den 1970ern selbst zu Unrecht wegen Mordes verurteilt worden, deshalb fünf Jahre auf der Flucht und anschließend sechs Jahre im Gefängnis war, legt mit "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes" weniger einen Krimi denn eine oberflächlich an Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" gemahnende Novelle vor.
Zwei Erzählstränge stehen sich im Wechsel gegenüber. Nach dem Prolog eröffnet Silvano seine Sicht der Dinge, und diese korrespondiert mit der des Gefängnisinsassen Raffaello. Dem Autor gelingen hierbei verdichtete Zustandsbeschreibungen, die zuweilen die Leere des Hinterbliebenen, besser aber noch die Reduzierung als Häftling auf den Punkt bringen. Doch für die dem Plot innewohnende These selbst fehlten offenbar die sprachlichen Mittel wie auch das philosophische Verständnis, die in ihm steckende Tiefe auszuloten.
Raffaello wirkt bis zuletzt authentisch und in sich plausibel, doch hat er kein den Leser überzeugendes Gegenüber. Drei, vier Mal wird Silvano der Titel des Buches als raunende Sentenz in den Mund gelegt, was einfach auch deshalb so auffällt, weil sie im Widerspruch zu der bald auch bei ihm eher Testosteron gesteuerten Sprachregelung steht. In seiner Trauer fallen ihm zu seiner Frau nur ihre Jugend und der angeblich auch von ihr sehr geschätzte Sex ein, zu seinem Sohn, dass er lediglich in den Arm genommen aber nicht mehr wie ein Baby gewiegt werden wollte. Seinem Rachefeldzug unterliegen am Ende nicht nur Raffaello und sein Komplize, sondern auch dessen Frau. Sie war zwar nicht an der Tat beteiligt, wusste aber von ihr. Bevor Silvano sie tötet, missbraucht er sie brutal. Alle, die sich für das Leben von Gefängnisinsassen einsetzen, werden als Gutmensch-Abziehfolien durchdekliniert, ein Priester desgleichen wie eine ehrenamtlich tätige Frau, die ebenfalls von Silvano sexuell benutzt wird - mit dem buchstäblichen Totschlagargument: Und wer von ihnen dachte je an die Opfer des Gefangenen?
Dass einmal die Wunschphantasie eines Opfers tabulos zu Ende gedacht werden sollte, ist mehr als legitim - aber dafür hätten zumindest die Familie um Silvano und er selbst stärker ausgeleuchtet sowie seine Haltung vor und nach der Tragödie eindringlicher erörtert werden müssen. So aber wirkt die Hauptfigur inkonsistent bzw. scheint es immer mehr, dass Silvano sich abgesehen von der bis dahin angepassten Berufswahl schon vorher kaum von dem Verbrecher nach Sprache und Lebenseinstellung unterschieden hat. Das würde auch das Ende plausibel machen, wonach er schließlich "ohne Emotionen, aber neugierig" und "im vollen Recht zu entscheiden", ob er "verzeihen wollte oder nicht" von der Beute auf der Insel Martinique lebt.
Schade, hier wurde ein großes Thema mit der Axt angegangen, um dann noch nicht mal zu provozieren, sondern die Leser lediglich zu verärgern.
Weitere Besprechungen zu Werken von Massimo Carlotto siehe:
Massimo Carlotto: Die Schöne und der Alligator (1999)
Massimo Carlotto: Die dunkle Unermesslichkeit des Todes (2008)