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Rudi Dutschke gilt vielen als eine Ikone, als ein Sinnbild der 68er
Jahre. Viel zu früh gestorben an den Folgen eines nicht nur von der
einstigen Springerpresse mitzuverantwortenden Attentates, wird er wohl
noch da und dort honorig im Gestus einer läßlichen Jugendsünde
zitiert, aber sonst? Was hatte diesen Mann in jenen Jahren so "gefährlich"
gemacht, daß er in das Visier von Stasi und Verfassungsschutz geraten
war? Warum ließ sich an ihm das "gesunde" Volksempfinden derart aufstacheln,
daß noch Jahre nach dem Attentat Berliner Polizisten seinen vom Pistolenschuß
nachhaltig lädierten Schädel mit Knüppeln zu treffen suchten?
(Noch heute verweigert Luckenwalde auch nur das Anbringen einer Gedenktafel
an dem von R.D. besuchten Gymnasium. Dabei hatte er bereits als Schüler
eine Courage bewiesen, die durchaus vorbildhaft war.) Gewiß war er
ein Linker, aber von welcher Sorte und mit welchem Ziel? (Das sektiererische
Gewusel damaliger Links- bzw. K-Gruppen entsprach ja in etwa den diversen
"Befreiungsfronten" in Monty Pythons DAS LEBEN DES BRIAN.)
Es galt eine lange Trauerzeit abzuwarten, bevor sich die Witwe Dutschkes
vor etwa fünf Jahren an seine Biographie wagen konnte. Als Gretchen
Klotz ihn 1964 kennenlernte, sah sich R.D. noch als Revolutionär,
der ausschließlich mit der Revolution verheiratet sei und deshalb
keinen Platz für die Beziehung zu einer Frau habe. Ein Jahr später
hatte er immerhin "nichts dagegen", wenn sie erneut aus den USA
zu ihm nach Deutschland reiste. Gretchen wurde ihm schließlich zur
multifunktionalen Partnerin und gebar ihm drei Kinder. In der Biographie
wird das keineswegs über Gebühr in den Vordergrund gerückt
noch in falscher Heldenverehrung ausgelassen - es wäre jedoch sicher
ein weiteres Buch wert!
Zusammen mit den Hintergrundsinformationen zu den Veröffentlichungen
R.D.s zeichnete Gretchen Dutschke anhand seiner Tagebücher sowie vieler
unveröffentlicher Briefe und Notizen eine fesselnd dichte, themenzentrierte
Chronologie seines Lebens nach. Und zugleich das Bild einer Zeit, als man
noch an eine Bewegung glauben wollte, die sich nicht wie ihre Gegner korrumpieren
lassen würde. R.D., dessen Integrität und Willenskraft wohl einzigartig
war, erwies sich als freischwebender Motor zwischen allen Stühlen.
Mindestens zweimal war er maßgeblich daran beteiligt, die Kräfte
kritisch denkender Menschen für eine Sache anzutreiben bzw. zu bündeln:
1968 für die APO, 1979 für die GRÜNEN. Dabei kam er nie
auch nur in Versuchung, eine Führungsfunktion im Sinne eines "Pöstchens"
einnehmen zu wollen. Das Recht auf Gedankenfreiheit wurde bei ihm mit einer
permanenten Erweiterung des eigenen Horizontes gleichgesetzt. Verengungen
nach dem Motto "Das Ziel heiligt die Mittel" wurden von ihm bald
durchschaut und dann vehement mißbilligt. Seine theoretischen Studien
verlangten stets nach "Aktion" mit einer "antiautoritären"
Zielvorgabe. Unter Verlusten - nicht zuletzt des eigenen Lebens.
So dachte er bereits 1967 die deutsche Wiedervereinigung an, befürchtete
1969 in einem Brief an den damaligen Präsidenten Heinemann den "historisch
üblichen Verschleiß der SPD" und mußte andererseits
einen gewissen Rudolf Bahro als Plagiator seiner These zur "asiatischen
Produktionsweise" aushalten.
Aus dem vielen, was manchen vielleicht neu oder auch nur entfallen
ist, hier wenigstens ein Zitat von 1978: "Ich bin Sozialist, der in
der christlichen Tradition steht. Ich bin stolz auf diese Tradition. Ich
sehe Christentum als einen spezifischen Ausdruck der Hoffnungen und Träume
der Menschheit."
Ein Widerspruch? Wurde R.D. nicht 1967 aus der Berliner Gedächtniskirche
geworfen, weil er im Weihnachtsgottesdienst zusammen mit einigen Kommilitonen
Plakate mit gefolterten Vietnamesen trug, die mit dem Bibelvers "vom
geringsten Bruder" unterzeichnet waren? Am besten nachlesen und sich
endlich wieder aufstacheln lassen!
Weitere Besprechungen zu Werken von Gretchen und Rudi Dutschke siehe:
Gretchen Dutschke (Hg.): Rudi Dutschke - Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben (1996)
Gretchen Dutschke (Hg.): Rudi Dutschke – Jeder hat sein Leben ganz zu leben (2003)