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Auf Hans Magnus Enzensberger muss man nicht extra zum 75. Geburtstag mit einem Auswahlband aufmerksam machen - er ist nach wie vor mit Neuveröffentlichungen "im Geschäft".
Und auch seine "Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten" enthalten zwei Erstveröffentlichungen, die sich homogen inmitten sechs älterer aus den Jahren 1978 bis 2002 einfügen.
Allen gemeinsam ist die Form szenischer Dialoge, die sie insbesondere für Hörspiele anempfehlen - aber man kann sie auch ohne Schwierigkeit selber lesen, sind es doch abgesehen von "Nieder mit Goethe" (1995) zumeist nur jeweils zwei Protagonisten, die sich hier pointierte Widerparts liefern. In "Fünf Unterhaltungen über "Jaques le fataliste" (2004), Metakommunikation (2004) und "Ein Dialog über den Luxus" (2002) sind es "Der Eine" und "Der Andere", die sich wie in einem gleichnamigen Märchen aus den 90ern gegenüberstehen und in These und Antithese Diderots "Jaques le fataliste", das Nichtdialogische akademischer Vortragsreihen und den Luxus aufs Korn nehmen.
Der Anfang wird von "Der Tote Mann und der Philosoph" gesetzt, dessen "Szenen nach dem Chinesischen Lu Xun" märchenhaft schön Selbstironie beweist, verliert hier doch der allzu selbstgewisse Philosoph.
In dem als Interview vorgestellten "Diderot und das dunkle Ei" wird Lust auf die Lektüre dieses offenkundig verschrobenen, aber überaus offenen Denkers gemacht, die in den nachfolgenden "Fünf Unterhaltungen über "Jaques le fataliste" trotz ihrer Gegenläufigkeit nur noch verstärkt wird.
"Nieder mit Goethe!" ist dagegen fast schon ein wenig allzu plakativ, denn diese "Liebeserklärung" kommt als anachronistische Talkshow daher, die vor allem die Kleinkariertheit von Konkurrenten und abgewiesenen Liebhaberinnen Goethes vor Augen führen will.
"Über die Verfinsterung der Geschichte" (1984) sind zwei Dialoge aus dem 19. Jahrhundert, die Enzensberger nach Alexander Herzens Buch "Vom anderen Ufer" für die Gegenwart eingerichtet hat. Diese Dialoge thematisieren den Sinn und Unsinn politischer Anteilnahme bzw. die Interpretation politischer Entwicklungen - brandaktuell treffen sie u.a. den Nerv heutiger Auseinandersetzungen über Politikverdrossenheit. Sie korrespondieren aber auch mit "Romantiker der Revolution" von E.H. Carr (Hrsg. von H.M. Enzensberger in seiner "Anderen Bibliothek"), in dem insbesondere auf das Leben Alexander Herzens eingegangen wird. (Siehe hierzu Romantiker der Revolution.)
"Ohne uns" als vorletzter Text vor "Ein Dialog über den Luxus" lässt einen Bankier und einen vormaligen Terroristen immer wieder aufeinanderprallen, die das Außen-vor-sein in der bereits Jahre währenden Gefangenschaft in einem malaysischen Militärcamp schätzen lernen.
Die angesprochenen Themen und Ausgangslagen gemahnen stets ein wenig an Bert Brecht, aber wenn dieser Eindruck gerechtfertigt ist, dann nicht im Sinne epigonalen Nacheiferns, sondern im Überwinden und Übertreffen dieser Ikone. Enzensberger verschließt sich nicht vor der Vielschichtigkeit menschlichen Seins, bei der die politische Haltung eben nur eine von vielen möglichen Haltungen ist. Seine Zuspitzungen geben denn auch keine eindeutigen, leicht abzuhakende Antworten. Sie eröffnen vielmehr am Ende neue Fragen, die auf wiederum neue notwendige (Denk-)Prozesse verweisen und, siehe Diderot und Herzen, zugleich auf Autoren vergangener Zeiten neugierig machen. Ein überzeugender und höchst kurzweiliger Beweis, wie sehr eine solcherart gepflegte Rekapitulation des Vergangenen Funken für jedwede Zukunft zu schlagen vermag.
Weitere Besprechungen zu Werken von Hans Magnus Enzensberger siehe:
Büchernachlese-Extra: Hans Magnus Enzensberger