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Jetzt laß ich euch laufen
auf daß ihr ausplaudert
wie mir geschah im August [1]
Auf großem, einmal mehr das Din-A-4 übertreffende Format sind nun 41 Gedichte von Günter Grass nachzulesen, eingebettet in ganz- zuweilen auch doppelseitige Schwarz-Weiß-Grau-Lithographien, die das ihn umgebende Küchen- und Waldbiotop zum korrespondierenden Spiegel seines Gefühls- und Seelenhaushaltes machen. Beides hat die durch sein vorangegangenes Buch Beim Häuten der Zwiebel ausgelöste Mediendebatte im Fokus und reagiert sich daran ab.
Wer hier nun mehrbödig und artifiziell verschachtelt Tiefsinniges erwartet, ist böswillig und von vorneherein auf zu skandalisierende Enttäuschung aus. Wer sich dagegen einen Blick in das Innere eines offenbar zutiefst getroffenen Autoren verspricht, wird gleich auf zwei Kanälen gut bedient und vermag seinen Horizont zu erweitern.
Der Kunstbegriff muss für diese Sicht allerdings gedehnt und auf das einzigartige Subjekt Günter Grass angepasst werden. Wo er noch in Letzte Tänze im Überschwang mit den Formen zu spielen vermochte, nutzt er nun jahrzehntelange Routine, um deutlich zu machen. Und unverstellt ehrlich zu sein. Ein Anfänger kann und darf das nicht - es würde keinen interessieren. Aber Grass verdient nach wie vor großes Interesse. Gerade weil seine Halsstarrigkeit ihn nun immer mehr zu einem Fossil seiner selbst zu wandeln droht.
Wenn er im Buchtitel und dem gleichnamigen Gedicht damit kokettiert, als "Dummer August" vors "Schnellgericht der Gerechten" gestellt worden zu sein, wenn er sich an anderer Stelle gar "Feinden" und "Scharfrichtern" ausgesetzt sieht, dann ist das bodenlos ungeschickt und damit bar jeder Strategie, die um Vergebung bettelt. Das passt nicht ins Geschmeidige und Gefügige unserer angeblich so politisch korrekten Medienlandschaft. Und macht Günter Grass zu einem Solitär, nicht bewunderungswürdig, weil unbeugsam, aber faszinierend, wegen seiner ungebrochenen Selbstgewissheit, gefälligst so sein zu dürfen, wie er ist.
Weit entgegenkommender und vermutlich "klüger als sein Autor", sind jedoch jene Gedichte, die seine Verletzlichkeit auf den Punkt bringen ...
Jetzt übe ich Schritte
auf abschüssigen Wegen
weiß nicht die Richtung [2]
... oder sich immer wieder vergewissern müssen, dass es auch noch eine vergleichsweise Minderzahl an Freunden gibt.
Doch auch wenn das zuweilen im wortmächtig besten Sinne anrührend und von seinen mal zarten mal schrundenreichen Zeichnungen kongenial eingefasst ist, bleibt der offenbar nicht ungewollt evozierte Konflikt, sich hier weniger mit einer künstlerischen Leistung als einer Haltung auseinandersetzen zu sollen. Oder zu dürfen.
Wir haben uns mit ihm, Günter Grass, dem jahrzehntelang sich querstellenden, einmischenden, uns im Ausland hoffähig machenden, längst nicht nur mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Autor zu beschäftigen.
"Nun muß ich die Prozession aushalten." Und so hielt er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.
Günter Grass hat 2004 in Der Schatten Christian Andersen Märchen mit Lithographien ausgestaltet, darunter auch "Des Kaisers neue Kleider" - die beiden Schlusssätze daraus treffen womöglich den Kern seiner Gedicht gewordenen Repliken. Alle Welt identifiziert sich gern und schnell mit dem Kinderruf: "Aber er hat ja gar nichts an!", bedenkt aber weit weniger die Demütigung und Verletzung des Kaisers, den das Volk all die Jahre hat schalten und walten lassen und dessen Nacktheit hier vor allem auch ein Bloßgestelltsein eben dieser allen Menschen innewohnenden Verletzlichkeit meinen kann.
Günter Grass war in jenem Herbst bereits im 79. Lebensjahr, aber das machte ihn um keinen Deut unverletzlicher als unsereinen. Zu verlangen und zu erwarten hat man von keinem zu keiner Zeit etwas. Nur zu wünschen. Nicht für uns, sondern für ihn: Vielleicht trotz eines hohen Alters etwas mehr Einsicht in die Verhältnismäßigkeit seiner Klagen. Und das Wandeln seines glaubwürdig vorgetragenen Schmerzes zum Anstoß, sich von dem Ballast hypertropher Erwartungen an die sich mit ihm auseinandersetzende Menschheit zu befreien. Und ja, vielleicht auch noch etwas mehr Dankbarkeit für eine Nachkriegsbiographie, die nur ihm und seiner Reibungsmöglichkeit an und mit uns als stets aufmerksames Publikum gegeben war.
Zwischen den "Ekelpaketen" eines "gleichgestimmten Packs" und den auf seine Ehrlichkeit mit ehrlich gemeinter und durchaus freundlich gesinnter Kritik Antwortenden zu unterscheiden, bleibt so oder so ihm überlassen.
Es zu üben, wäre es jedenfalls nie zu spät.
1[Zitiert aus "Kurzgefasste Gedichte" S. 70]; 2[Zitiert aus "Fragen" S. 31]
Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass