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Vorweg ein Bekenntnis: Die vom Autor selbst mit Radierungen versehene Jubiläumsausgabe der "Hundejahre" ist für den Rezensenten eine "Erstbegegnung". Und eine erste Lektüre von "Hundejahre" am Ende des Jahres 2013 ist platterdings eine andere als eine im Jahr 1963 - nicht zuletzt, weil ihr bereits Einiges an Auf und Ab der Einschätzungen zu den Werken von Günter Grass vorangegangen ist. Waren zuletzt die Novelle Im Krebsgang noch ein provokativ gekonnter Paukenschlag und Letzte Tänze ein versöhnlich stimmendes "Alterswerk", führte Beim Häuten der Zwiebel zur unfreiwilligen Verstörung, die mit der darauf folgenden Keilerei gegen seine Kritiker u.a. in dem Lyrikband Dummer August nicht geringer wurde.
Davon abgesehen stellt sich fünfzig Jahre nach ihrem unveränderten Erscheinen bei allen Büchern die Frage, ob sie noch "leben" oder bestenfalls noch Germanisten eine lohnende Auseinandersetzung für historische Vergleiche zu bieten vermögen.
1963 war Günter Grass bereits ein mehr als erfolgreicher Mittdreißiger. Ein nicht verliehener Bremer Literaturpreis für "Die Blechtrommel" wie auch der misslungene Versuch eines hessischen Landesministers, "Katz und Maus" auf den Index der Bundesprüfstelle wegen seines "unsittlichen" Inhalts zu setzen, hielten den Autor keinesfalls auf, sondern ließen die Auflagen der ersten beiden Teile der "Danziger Trilogie" nur umso höher nach oben schnellen. (Ein Effekt, der sich auch bei seinen späteren Werken noch des Öfteren einstellen sollte.)
Darauf aufbauend und durch nichts gebremst, gibt Günter Grass auch in "Hundejahren" dem Affen Zucker. Als Grundierung seiner Rückschau auf ein Deutschland vor, während und anderthalb Jahrzehnte nach Nationalsozialismus und II. Weltkrieg dienen ihm antike Mythen, Sagen und Märchen, deren abgeschliffene Verdichtung er jedoch radikal aufzubrechen sucht. So korrespondiert bei ihm verschriftlicht mündliche Rede in unvollendeten, dennoch durchaus verständlichen Sätzen mit Wiederholungen ganzer Passagen en Detail oder als Fazit ziehende Zusammenschau. Begriffe u.a für alte Landschaftszuweisungen und schon damals in Vergessenheit geratendes, weil nicht mehr genutztes Handwerkszeug untermalen derb expressiv ausgestaltete Geschehnisse um Personen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts agieren. Ein Ideen- und Metaphernreichtum ohnegleichen, wird hierin u.a. den Vorfahren bis zum "Vater" des Lieblingsschäferhundes von Hitler Tribut gezollt, Eduard Amsel, als eine der beiden Hauptfiguren, zum Gestalter von äußerst begehrten Vogelscheuchen "erhoben" und von der anderen Hauptfigur Walter Matern dessen Vater zum Weissager aus Dialogen unter Mehlwürmern gemacht, der Politikern aber auch ersten Lizenznehmern für Magazine und Zeitungen wie Stern, Spiegel und Bild oder den Wirtschaftsbossen u.a. von Siemens und Krupp punktgenau sich erfüllende Prophezeiungen mit auf den Weg gibt. Das ist Satire pur und - bei genügender Vorkenntnis - noch heute so ansprechend wie damals!
Dieser Mahlstrom an Geschichte und Geschichtchen samt den in Auge und Ohr klingenden Dialogen im Weichsel-Dialekt und den Sentenzen mit philosophischen Heidegger-Verballhornungen hat eine beachtliche Sogwirkung, die einen auch über die bereits angesprochenen Redundanzen oder eine als Theaterstück inszenierte "Diskussion" hinwegtreiben bzw. sie in weiten Teilen überlesen lässt - bis einen erneut eine reizvoll erscheinende Passage wieder einfängt.
Ohne Zweifel entfalten die "Hundejahre" also wie in den Werken davor und danach eine beeindruckend klangvolle Sprachmächtigkeit - und insofern ist dieses Werk auch noch heute als "lebendige" Literatur zu betrachten.
Doch was einem durchaus geradezu barock-lustvoll entgegenströmt ist eben zugleich ein ungebändigt verästeltes Delta an Ideen, durch das der Autor oder/und ein ihn disziplinierendes Lektorat von vorneherein einige abkürzende Kanäle hätte ziehen müssen.
Ein derartig überzeichnetes Wimmelbild lenkt den Blick auf viele Details, ohne einer inneren Logik und damit einem klaren Fokus Richtung sowie einen sich über das Ganze ziehenden Spannungsbogen geben zu können .. oder zu müssen.
Und so wirft bereits die Form den Inhalt bestimmende Fragen auf, die der Klärung bedürfen - vermutlich schon 1963 ihrer bedurften.
Relativ schnell als zeitbedingte Widerhaken kenntlich, die heute - endlich! - eine andere Betrachtung und Bewertung gefunden haben, sind nicht zuletzt die hier sexualisierte Engführung von Frauen, die sie u.a. anstelle ihre Nazi-Ehemänner zu mittelbaren Racheopfern macht, indem ihnen von Matern jeweils ein "Tripper angehängt" wird. Und sind die Frauen nicht so einfältig wie anhänglich, dann sind es Scheusale wie Tulla, die allein der hübsch grausamen Wirkung wegen andere über die Klinge springen zu lassen scheinen.
Was aber hat es z.B. mit den Einlassungen aus der Sicht des "stillen Beobachters" und Ich-Erzählers Harry Liebenau zu dem misslungenen Attentat von Stauffenbergs auf sich, wenn es im zweiten Buch auf S. 251 unten heißt:
"Auch missglückte sein Attentat, weil er kein Attentäter von Beruf war, ungelernt nicht aufs Ganze ging, sich verdrückte, bevor die Bombe deutlich ja gesagt hatte, und sich aufsparen wollte für große Aufgaben nach geglücktem Attentat."
Spricht da tatsächlich nur eine Figur aus seinem Toten- und Vogelscheuchentanz, die nichts mit dem Autor zu tun haben soll? Oder ist das eine verbrämte, in antik-griechischer Unschärfe gehaltene auktoriale Ansage?
Bis auf die (Neben-)Figur des Studienrats Oskar Brunies, der gern Süßes wie selbstgemachte Malzbonbons und Cebiontabletten naschte und sich um Mitmenschlichkeit bemühte - am Ende jedoch, von der bereits erwähnten Tulla denunziert, im KZ umkommt, fehlt den Figuren jedwede nachvollziehbare Entwicklungspsychologik. Sie bleiben allesamt auf Distanz zu haltende Schablonen, für die man keine Sympathie aufbringen kann und will. Dies mag auch der eingebrannten Beobachtung des noch heranwachsenden Grass geschuldet sein, dass sich so viele nach dem Krieg offenbar nur allzu schnell ohne jede Skrupel und Logik neu zu erfinden wussten. Und er ihnen allen den Spiegel vorzuhalten hatte - mit einem erstaunlich selbstgewissen, sich gern auch aus eigenen Werken zitierendem Ego, ohne das er den Egos bigotter Betonköpfe in den 1960er wohl keinen Blick auf einen solchen Spiegel aufzunötigen können meinte.
Wie aber kann und sollte das bei den anfangs "dicken" Figuren wie Eddie Amsel und der kleinen Jenny funktionieren, die im Schnee eigentlich hätten umkommen müssen, deren Existenz er dann aber in einer "fantastischen Wendung" nicht nur ohne weitere Erläuterung wieder aufleben, sondern sogar noch in verschlankter Erscheinung jeweils eine Karriere beginnen lässt, die Amsel in der Nachkriegszeit sogar mit durchschlagendem Erfolg fortsetzt. Da ist jedes Märchen in sich plausibler!
Und warum Eddie Amsel nicht nur als Opportunist gekennzeichnet wird, wenn auch längst nicht so brutal und bei Bedarf partiell selbstvergessen wie Matern, sondern auch noch mütterlicherseits für das Judentum als überlebender Stellvertreter herhalten muss, bleibt völlig unklar.
Ebenso unklar, warum dieser Jubiläumsausgabe kein Anhang mit einer um Erläuterungen bemühten Kommentierung solcher notwendigen Nachfragen angefügt wurde. Am allerbesten (auch) durch den Autor selbst. Denn von selbst versteht sich dieses Werk als Ganzes nicht - verstand es sich wohl zu keiner Zeit.
Zur Ausstattung dieses nun auch buchstäblich in drei Bücher aufgeteilten Romans noch Folgendes:
Der in grau gehaltene und ebenfalls mit einer Illustration von Grass versehene Schuber bildet einen ansehnlich stattlichen Block. Die drei Bände im ebenso stattlichen, deshalb auch nicht als Reiselektüre geeigneten Großformat sind in rotem Leinen gebunden, jeweils mit einer eingeprägten Schwarz-Weiß-Radierung versehen und ihre Titelei in Weiß gehalten.
Bei einem Preis von 65 Euro an den Lesebändchen dieser ja wohl eher selten auf einen Rutsch sich vornehmbare(n) Lektüre(n) zu sparen, wirkt dagegen etwas knickrig. Ein echter, für Steidl ungewöhnlicher Makel jedoch sind ins Auge stechend unschöne Nachlässigkeiten, wie mehrere Trennungsstriche innerhalb nicht zu trennender Worte mitten in der Zeile und fehlende Leerzeichen zwischen Punkt und nachfolgendem Satzbeginn.
Die gegenständlich expressiv gehaltenen Radierungen des Autors sind meist direkt den jeweiligen Textabschnitten zugeordnet. Besonders bemerkenswert darunter jene, die über den Text hinausweisend Gruppen zeigen wie z.B. die Vogelscheuchen oder die zum Totentanz versammelten Figuren eines Kapitels. Gerade diese Radierungen sind ja das einzig Neue an dieser Ausgabe und daher wohl für bibliophile Sammler und Grass-Liebhaber gewiss eine Überlegung ihrer Anschaffung wert.
Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass
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