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Nachdem das Romandebut von Allan Gurganus wochenlang auf den Bestsellerlisten
der USA gestanden hat, den Literaturpreis der American Academy of Arts
and Letters für das beste Werk einheimsen konnte und von NBC bereits
die Fernsehrechte erworben wurden, war nur noch die Frage, wann es bei
uns erscheinen würde. Daß sich Rudolf Hermstein zur Übersetzung
immerhin 3 Jahre Zeit lassen durfte, liegt zum einen an dem Umfang (960
Seiten) zum anderen aber auch an der Art wie DIE ÄLTESTE NOCH LEBENDE
WITWE ERZÄHLT.
Jahrgang 1885, spricht die farbige Lucy Marsden in das Aufnahmegerät
eines nicht näher bezeichneten Interviewers, der kein einziges Mal
zu Wort kommt. Die 99-jährige hat ein schier unerschöpfliches
Reservoir an Erinnerungen, vor allem an ihren Mann Captain Willie Marsden,
der es in Wirklichkeit nur zum einfachen Schützen des Bürgerkrieges
1860-65 gebracht hatte, aber gegen Ende seines Lebens als letzter lebender
Zeuge dieses Krieges übriggeblieben ist.
Lucy wurde von dem 50-jährigen als 15-jährige geheiratet.
Sie lernt die Geschichten Willies kennen, die er z.B. vor den Fernsehkameras
zum Besten gibt, aber sie kennt eben auch die wahren Hintergründe
dieser Geschichten, die sie nun, im Rollstuhl eines bescheidenen Altersheimes
sitzend, wachruft. Zuweilen bissig wie die Oma aus den Golden Girls, dann
wieder in den poetischen Metaphern ihrer Jugend brillierend vermag Lucy
Marsden zu bezaubern und eine längst vergangene Epoche in Spannung
zu heutigen Gegebenheiten zu setzen - da hat der Übersetzer überzeugende
Arbeit geleistet. Auch nach Art alter Menschen von einer Zeit scheinbar
übergangslos in die andere zu wechseln - eben noch Willie im Schützgraben,
dann schon wieder über die Figuren einer Soap-Opera im Fernsehen zu
lästern - ist von erfrischender Plausibilität. Und natürlich
- alte Menschen wiederholen sich. Jedoch damit überstrapaziert der
Autor den Monolog seiner Protagonistin, und die Ansichten über dieses
Sprechstück werden zur reinen Geschmacksfrage: Wer sich alles vorlesen
lassen kann, wird auch die Wiederholungen wie einst die antiken Zuhörer
der Odyssee zu schätzen wissen. Wer dagegen das Ganze lesen will,
muß immer wieder aufs Neue Geduld aufbringen, um über diese
Hürde zu springen. Zuletzt wird die Begeisterung über die vielen
gelungenen Passagen von dem Bewußtsein überdeckt, es endlich
"geschafft" zu haben. Schade!
Weitere Besprechungen zu Werken von Allan Gurganus siehe:
Allan Gurganus: Die älteste noch lebende Rebellenwitwe erzählt (1992)
Allan Gurganus: Letzte Sicherheit (1993)
Allan Gurganus: Muriels Lachen (1997)