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Büchernachlese-Bestenliste 2012
Büchernachlese-Extra: Jesus Christus (Romane, Sachbücher)
Textenetz: Klaas Huizing

Klaas Huizing

Mein Süßkind

Ein Jesus-Roman. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2012. 240 Seiten. 19,99 Euro. ISBN: 978-3-579-06579-3, >>> Amazon >>> Lehmanns Media

Ein mühsam unterdrückter Schrei.
So fing alles an.


Mirjams Mutter ist entsetzt über die Vorstellung, dass ihre Tochter einen zum Mann nehmen soll, dessen Haut von weißen Flecken gezeichnet ist. Mirjams Vater liebt Mirjam nicht weniger und glaubt an ihre Begegnung mit einem Himmlischen, doch zugleich muss er sie und seine Familie vor der Schande einer ungeklärten Schwangerschaft schützen ...

Ob allsonntäglich interpretierter Glaubensinhalt, biografische Romanfigur (mehr oder weniger gelungen siehe u.a. Mailer und Messadié) oder auch nur Randfigur in der genialen, "natürlich" von übel nehmenden Amtskirchenwürdenträgern sehr unterschätzten Filmparodie "Das Leben des Brian" - Jesus scheint doch nun wirklich längst in aller Breite "auserzählt" und wiedergekäut.
Klaas Huizing legt unter dem Titel "Mein Süßkind" jedoch einen Jesus-Roman vor, der es in sich hat und der deutschsprachigen Literatur etwas wirklich Außergewöhnliches schenkt - und zwar keineswegs nur den üblich verdächtigen Interessenten an einem derartigen Stoff, sondern allen, die Literatur nicht zuletzt als ein die Sinne schärfendes, den Sinn für Situationskomik dabei nicht außen vorlassendes und den Horizont erweiterndes Sprachereignis zu feiern suchen.

Höchst vielschichtig angelegt, fängt den Leser bereits auf der vordergründigen Ebene eine singende, auch den Pulsschlag seiner Protagonisten aufnehmende Sprache ein. Nahezu alle Kapitel greifen zu Beginn einen Begriff aus dem letzten Satz des Kapitels zuvor auf, vertiefen oder verdrehen ihn, und erzeugen allein schon durch diesen kleinen Kniff den Drang, immer weiter am Ball bleiben zu wollen. Und je nach (noch vorhandenen) Vorkenntnissen fallen natürlich zuerst die Abweichungen von Vorlagen geläufiger Bibelübersetzungen auf. So wurde u.a. aus Maria Mirjam, aus dem nur einmal direkt genannten Josef der dem Alkohol nicht abgeneigte "Gesprenkelte" und die Geburt Jesu ist ohne jeden Bezug zur Weihnachtslegende. Weitere Legenden wie der Disput des 12-jährigen Jesu mit Gesetzeslehrern im Jerusalemer Tempel kommen ebenfalls nicht vor, sondern Huizing lässt Jesus in seinem direkten Umfeld Rabbis suchen und treffen, die ihm zum Lehrer werden und ihn am Ende in seiner Berufung bestätigen. Und es wird gestritten und gelacht, und beschrieben, wie der "gesprenkelte" Stiefvater Jesus nur wenig Liebe zu zeigen vermag und zwischendurch auf "Entzug" geschickt wird.
Derlei Abweichungen sind jedoch zuallererst (und in den bisherigen Biografien zumeist außen vor gelassene) Ergänzungen, die jene gänzlich "unbezeugte" Lücke zwischen Jesu Geburt und der in diesem Roman das offene Ende bildenden Taufe Jesu durch Johannes zu schließen sucht.
Hier nun nicht einfach "irgendwie" zu spekulieren setzt Kenntnisse voraus, die der Klappentext eigenartigerweise verschweigt - denn Huizing ist eben nicht nur Chefredakteur des Kulturmagazins OPUS und ein preisgekrönter Romancier (u.a. mit "In Schrebers Garten"), dessen Werke in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, sondern nicht zuletzt auch promovierter Philosoph und Theologe mit einem Lehrstuhl für Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen an der Universität Würzburg.
So vermag er seinem "Protagonisten" einen Werdegang "anzudichten", der auch für sich weniger oder gar nicht religiös verbundene Leser zum nachvollziehbaren Zeitbild werden kann: Jesus, ein Jude im Umfeld seiner Familie, seiner Freunde, einer von hellenistischen Einflüssen geprägten Theaterkultur, den römischen Besatzern und den unterschiedlichen Formen des Widerstands gegen diese ...
Doch derart Realienkundliches wäre auch noch von ambitionierten Nicht-Theologen zu recherchieren - Huizing hingegen vermag dem aber auch eine Sprache zu geben, die den Weltsichten und Sprachregelungen von damals Rechnung trägt. Denn in seiner singenden Prosa schwingt jene Unschärfe mit, die schon Homers Epen auszeichnet und sich von heutigen auf den Punkt zu bringenden Festlegungen unterscheidet. Vor 2000 Jahren ging keiner von Gewissheiten, gar wissenschaftlich bewiesenen Gewissheiten aus, sondern man war entweder dem Schicksal oder eben Gottes Willen unterworfen - das Unerklärliche war das Selbstverständliche, und sich davon angesprochen zu fühlen ein magischer Moment. So sahen sich auch Mirjam und Jesus von etwas bewohnt oder heimgesucht, das sie nicht "verstehen" sondern nur im doppelten Wortsinne als "Aufgabe" wahr- und annehmen konnten - durchaus im Widerstreit eigener Gefühle und Interessen. Und Huizing verleiht dem mit seiner Sprache eine nachgerade plausible Authentizität, die ein neues Verständnis dafür weckt, auf welche Weise nicht nur die beiden, sondern auch ihr Umfeld an dieser Vorstellung teilhaben. Als immer wieder eingeführtes Gegenüber erhöht hierbei nicht zuletzt die Sicht Mirjams auf ihr "Süßkind" die Zugkraft des Spannungsbogens, ist es doch insbesondere sie, die seit seiner geheimnisvollen Empfängnis große Hoffnungen auf ihn setzt und von ihm nach und nach immer mehr in Verzweiflung gestürzt wird. Sie hat denn auch das letzte Wort in diesem Roman, der danach mit den Zeilen schließt:

So endet der eine Teil der Geschichte.
Uns so fing der andere Teil der Geschichte an.


Dem ist dann "nur noch" ein instruktiver Anhang mit einer Literaturliste sowie einem informativen Glossar zu einigen Begriffen aus der Lebenswelt Jesu angefügt.
Diesen Literaturgenuss sollte sich keiner entgehen lassen. Auszeichnungswürdig ist er sowieso!

Interview und weitere Besprechungen zu Werken von Klaas Huizing siehe:
Textenetz: Klaas Huizing

Buechernachlese © Ulrich Karger


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