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Seit dem Frühherbst 2005 sind die Symptome eindeutig, Walter Jens ist dement bzw. an Alzheimer erkrankt. Über das Erleiden der Betroffenen hinaus, das meint vor allem den Kranken selbst und seine nächsten Angehörigen, wird das hierzulande, wenn nicht im ganzen deutschen Sprachraum, als ein geradezu ungehöriger Schicksalsschlag diskutiert.
Dieser "Virtuose des Wortes", der wie kaum ein anderer seiner Generation mit einer unwiderstehlichen Rhetorik dem Denken auf die Sprünge geholfen hat, ist nun zurückgeworfen auf die Emotionalität eines Kleinkindes - eines verängstigten Kleinkindes, dessen permanentes Erschrecken aber mit viel Zuwendung durchaus zu bändigen ist.
Nachzulesen ist das in "Demenz", dem Buch seines ältesten Sohnes Tilman Jens. Der Untertitel "Abschied von meinem Vater" gibt das Kernthema vor, weswegen die im Umgang mit Walter Jens vor allem involvierte Mutter, Inge Jens, eher nur holzschnittartig skizziert wird, sich zudem kürzlich erst selber mit einem Buch über ihr Leben zu Wort gemeldet hat; und auch der jüngere Bruder wird nur an zwei Stellen kurz erwähnt. Diese Fokussion auf den Vater wird dennoch zum erhellenden Spiegel einer Kindheit und somit zu einem der anrührendsten Leseerlebnisse dieses Jahres, geht es darin eben keineswegs nur um das "Skandalon", wer hier betrachtet wird, sondern vor allem um den Autor, wie er es für sich verstanden hat, sein Verhältnis zum Vater in eine angemessene Verfassung zu bringen. Denn die über seine Perspektive hinausweisenden "unerhörten Begebenheiten" werden nicht einfach in einem chronologischen Bericht abgehandelt, sondern erlangen in ihrer präzise verdichteten Mehrschichtigkeit den literarischen Rang einer Novelle, die zur mehrfachen Lektüre einlädt. Ein Unikum, nimmt doch diese disziplinierte Verfasstheit dem Text nichts von seiner durchweg glaubwürdigen Authentizität.
"Ein spätes Bemäkeln meiner Kindheit wäre grober Undank, nur ein wenig seltsam war sie halt doch." (s.S.17)
Eltern-Kind-Beziehungen bilden das Fundament für eine Beziehung zur Welt schlechthin, für das eigene Geschlecht wird in der Regel das Vorbild zwischen Mutter und Tochter oder Vater und Sohn gesucht.
Tilman Jens, Jahrgang 1954, ist wie seine Eltern ein schon lange angesehener Autor, wenn auch mit anderen Themen und auf anderen Feldern. Sein Name wurde dem breiteren Publikum jedoch vermutlich weniger wegen seiner Buchveröffentlichungen über Uwe Johnson und Mark Twain zum Begriff als vor allem wegen seiner zahlreichen, höchst bemerkenswerten Fernsehdokumentationen für die Kulturmagazine von ARD, ZDF und 3Sat/Kulturzeit. Während seine Eltern in den Talkshows oft und gern gesehene Gäste waren, machte sich Tilman Jens bislang allein über seine in Buchform oder als Fernsehdokumentation umgesetzten Skripte öffentlich.
Wiewohl seine Kindheit offenkundig von großer Prinzipienstrenge geprägt war, darunter nicht zuletzt eine allein auf das Notwendige bedachte Askese und bei Tisch das Tabu: Weh Dir, Du schweigst!, vermochte der Autor schon bald anzuerkennen, dass seine Eltern zwar Wasser predigten aber auch stets, bis auf die noch anzusprechende Ausnahme seines Vaters, auch nur Wasser tranken. Und als kaum Schulpflichtiger antwortete Tilman Jens auf die Frage, was für ihn das Schönste sei: "Unnerhalten" (Unterhalten).
Wie aber gelang es ihm trotz ähnlicher Begabungen und Interessen, nicht an der übermächtigen Präsenz eines Vaters wie Walter Jens zu zerbrechen?
"Waren die Eltern auf Reisen, durfte ich bei den Nachbarn, die mir die Kindheit zur Kindheit machten, gar übernachten." (s.S.101)
Obiges Zitat ist nur die halbe Antwort darauf. Denn Tilman Jens beschreibt neben den arbeitsbedingten Distanzen zu seinem Vater auch ihm sehr herzlich zugewandte, gemeinsam verbrachte "Männertage" sowie seinen Vater als einen ihn in seiner Kindheit zwar zuweilen überforderndes, aber als Gesprächspartner bis zuletzt stets sehr ernstnehmendes Gegenüber.
So ist auch die im Klappentext der Werbewirkung halber hervorgehobene Frage nach einer eventuellen Wechselwirkung zwischen dem Ausbruch der Demenz und der bekannt gewordenen Parteizugehörigkeit zur NSDAP sowie eines Textbeitrages von 1943, worin der 20-jährige Walter Jens von "Entartungsliteratur" und "Verfallsdichtung" ganz im Sinne der Nazis schwafelt (S.61 f.) ein Aperçu des Sohnes, eine im Kontext des Textes durchaus richtig zu verstehende rhetorische Denkfigur auf eine eben mehr als zufällig erscheinende Koinzidenz, die dem noch gesunden Vater sehr entsprochen hätte. An keiner Stelle aber wird, wie von einigen Rezensenten im klappentexthörigen Schnellschuss insinuiert, von dem Sohn ernsthaft die These aufgestellt, eine wie auch immer geartete Verdrängungsleistung könnte zum Ausbruch von Alzheimer führen.
Zum Thema Verdrängung von Lebenserinnerungen innerhalb totalitärer Erinnerungen sei hier auch auf Hans Magnus Enzensbergers in Hammerstein oder Der Eigensinn (2008) enthaltene Glosse "Über den Skandal der Gleichzeitigkeit" hingewiesen, wonach Zeitungen in der Nazizeit neben Propagandameldungen nach wie vor auch Platz für Alltägliches wie Zigarettenwerbung oder Kleinanzeigen zur Suche von Bekanntschaften hatten. Dieses Spiegelbild des Gleichzeitigen privater Nischen in derartig historischem Umfeld mutet Enzensberger "eher unheimlich an". Es könnte jedenfalls ein wichtiger Bestandteil jenes Humus sein, auf dem sich nach Überwinden eines solchen Systems gewisse Erinnerungslücken sehr leicht überwuchern oder abfedern lassen. Selbst bei Leuten wie Walter Jens und anderen bis dahin als unzweifelhaft integer geschätzten Vertretern seiner Generation, denen man solche Lücken niemals zugetraut hätte.
Wie milde dieses Aperçu von Tilman Jens im Text angebahnt wurde, wird noch augenfälliger, wenn man sich das ja nicht nur für ihn bis 2003 gültige Bild von seinem Vater vorstellt. Ein Vater, der in kleiner Runde aber mit großem Risiko Thomas Mann anderthalb Jahre nach seinem Nazigeschwafel mutig verteidigt und der u.a. in den 1980ern bereits angejahrt Sitzblockaden für den Frieden auf sich genommen und zwei desertierte US-Soldaten bei sich versteckt hat. Welches andere Wirtschaftswunderkind konnte schon auf solch einen scheinbar durchweg untadeligen Vater blicken? Die Enttäuschung von Tilman Jens ist riesengroß - nicht über die Entgleisungen eines einem 20-jährigen seinerzeit opportun erscheinenden Verhaltens sondern über dessen späteres Verstreichenlassen unzähliger Gelegenheiten diesbezüglich Farbe zu bekennen und damit den Respekt vor ihm womöglich sogar noch zu steigern. Auch im letzten Interview mit dem geistig noch halbwegs gesunden Vater weicht Walter Jens seinem Sohn aus, begibt sich auf ein ähnlich störrisch selbstgerechtes Niveau wie Günter Grass in seinem Dummen August.
Die im obigen Zitat erwähnten Nachbarn aber, die für Tilman Jens mit ihrer Sanges- und Spielfreude in seiner Kindheit zu äußerst liebenswerten "Wahlgroßeltern" wurden, bargen ebenfalls ein Geheimnis, das schon acht Jahre früher gelüftet wurde: Danach war der vor seinem Tod ebenfalls an Demenz erkrankte "Wahlgroßvater" Albert Schaich ein "Staffelunterscharführer" der Gestapo, der noch am 21. April 1945 einen Mann erschossen hat, dessen einziges "Vergehen" darin bestand, für zwei abgeschossene kanadische Piloten ärztliche Hilfe im Rahmen der Haager Landkriegsordnung zu erbitten und deshalb der "Feindbegünstigung" beschuldigt wurde.
Somit wurde Tilmans Vater bereits zur zweiten "riesengroßen Enttäuschung", aber nicht zu etwas, was den inzwischen über 50-jährigen Autor nun vollends aus der Bahn geworfen hätte. Die Verabschiedung seines ihm bekannten Vaters changiert vielmehr zur Neuentdeckung eines greisen, höchst bedürftigen Kleinkindes, das über seine einst vollmundig vorgetragenen Selbstbestimmungsphantasien vom etwaigen Freitod längst hinaus ist. Und der Sohn ist dankbar, dass sein Vater eine optimale und damit privilegierte Versorgung erhält, die diesem durchaus noch viele Glücksmomente gewährt - ganz im Gegensatz zur zumeist üblich möglichen Versorgung. Insbesondere auch hierüber leistet das Buch wertvolle Aufklärung, die uns allen zu denken geben sollte.
In seiner hier längst nicht komplett aufgeschlüsselten Mehrschichtigkeit, natürlich nicht zuletzt auch hinsichtlich der Widersprüchlichkeit und dem geistigen Verfall von Walter Jens, bietet diese Novelle von Tilman Jens soviel Buch wie selten. Sein Vater hätte es wegen seiner stringenten Klarheit gewiss in höchsten Tönen gelobt und wäre einmal mehr auf seinen Sohn sehr stolz gewesen - und zwar zu Recht!