www.buechernachlese.de
|
Essenzen sind Auszüge von etwas, dem das Wesentliche innewohnt.
Bei der Schriftstellerin und Psychotherapeutin Anna Maria Jokl sind es
die verdichteten Eindrücke eines langen Lebens, das verteilt auf sechs
Metropolen gelebt wurde. Geboren 1911 in Wien, ab 1928 in Berlin, ab
1933 Emigration in Prag, ab 1939 in London. Nach dem 2.Weltkrieg kehrte
sie Ende 1950 nach Ost-Berlin zurück, wurde bereits nach zwei Monaten
wieder ausgewiesen, lebte darauf 14 Jahre in West-Berlin, um schließlich
in "historischer Konsequenz" seit 1965 in Jerusalem nun "zum
sechsten Male das Leben in immer unbekannter Umgebung und in der vierten
Sprache" aufzubauen.
In 19 essayistischen Kurzprosastücken und einem Briefwechsel holt
Anna Maria Jokl die Zeit ein, läßt Erinnerungen auftauchen oder
ihnen nachspüren, auch wenn deren wirklichen "näheren Umstände"
verloren sind, aber das Gesicht einer Erkenntnis, einer Vision haften geblieben
ist. Ihre Ausdrucksweise ist die einer sich der Sprache versichern müssenden:
genau und (deshalb?) zugleich poetisch. So legt sie die Kerne ihrer Erfahrungen
und Schlußfolgerungen frei, die trotz oder gerade wegen ihrer vielen
Lebensjahre in Fragen und Erstaunen münden.
Die Essenz ihrer Essenzen ist nur in und zwischen den Zeilen dieses
knapp 90 Seiten umfassenden Buches nachzulesen, dennoch hier ein Versuch:
Zum einen die geheimnisvolle Unausweichlichkeit vieler Geschehnisse, wie
z.B. in Eidon die "Verhinderung" des Aufeinander-Zuwachsens in einer
Tropfsteinhöhle oder der Tod eines Geisteswissenschaftlers vor dem
Diktat seines "im Kopf" fertiggestellten Werkes. Zum anderen, daß
es eben nur der oder die einzelne ist, wie z.B. die Schwester Kafkas, die
den Lauf der Welt zu verändern vermag.
Am Ende ihres Briefwechsels heißt es: Ich habe "wenig publiziert,
tue nichts dazu, Verbindungen aufzunehmen in die Inflation von Reden und
Schreiben."
Diesem Anspruch wird Anna Maria Jokl völlig gerecht, denn sie
gibt "nur" das Wesentliche wieder - und der Gehalt ihrer 90 Seiten wiegt
weit schwerer als so mancher, dicker Gelehrten-schinken.
Weitere Besprechungen zu Werken von Anna Maria Jokl siehe:
Anna Maria Jokl: Essenzen (1993)
Anna Maria Jokl: Zwei Fälle zum Thema "Bewältigung der Vergangenheit" (1997)