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Bisher galt es als ausgemachte Sache, daß Autisten zwar wie im
Film "Rain man" z.B. in der Lage sind, ganze Telephonbücher auswendigzulernen,
aber sich ansonsten völlig in sich zurückziehen und scheinbar
nichts von dem registrieren, was um sie herum geschieht. Weitere Symptome
(in graduell unterschiedlichem Ausmaß): Schier endlose Schreikrämpfe,
Stereotypien zur Selbst-Beruhigung (z.B. ständig Sand durch die Finger
rieseln lassen), das Nichtertragenkönnen sich verändernder Abläufe
im Alltag, völliges Verstummen ...
Birger Sellin ist 20 Jahre alt und Autist. Noch vor drei Jahren nahm
man an, daß er unheilbar geisteskrank und zu keiner Kommunikation
fähig ist. Dann lernte Birgers Mutter "facilitated communication"
als eine Methode kennen, die es ihm nach mühevoller Übung nun
ermöglicht, sich mittels einer Schreibmaschine oder einem PC auszudrücken.
Die im besten Sinne erschütternde Bedeutung dieses Vorgangs für
die Familie Sellin ist aber nur eine Facette der BOTSCHAFTEN AUS EINEM
AUTISTISCHEN KERKER, die in dem sensiblen Vorwort von Michael Klonovsky
ausführlich beschrieben wird. Das Andere aber sind die um Präzision
ringenden Wortschöpfungen B.S.s, die als wirklich neuer Zungenschlag
in der Literatur gelten dürfen. Sie prägten nicht nur seine ersten
persönlichen Mitteilungen an die Familie, sondern schon bald auch
Gedichte und kleine Prosatexte. Tatsächlich mußte der Autor
der mit ICH WILL KEIN INMICH MEHR SEIN betitelten Botschaften, nicht erst
das Lesen lernen. Er hatte es sich, ohne daß die Eltern auch nur
die leiseste Ahnung davon hatten, bereits mit fünf Jahren selbst beigebracht.
Neben den beklemmenden Metaphern für seine Angst und für seine
Wut, vor anderen "kistenweise unsinn" zu produzieren, finden sich
auch Sentenzen von bezaubernder Poesie und hinreißender (Selbst-)Ironie.
Ein kleiner Auszug daraus, der Jahreszeit entsprechend:
"...zur weihnacht sind mir die menschen so nah/reiner irrsinn ohnegleichen
in vernünftigen köpfen/weihnachten liebe ich euch besonders/dann
werdet ihr mindestens so irre wie ich".
Natürlich ist dieses Buch sensationell - ein noch längst
nicht geheilter Autist liefert den Beweis, daß Autismus nicht zwangsläufig
Geistiges Behindertsein bedeutet - aber es darauf zu verkürzen, wäre
ein großes Unrecht an B.S. und an uns selbst. Diesem Buch nur halb
soviel Aufmerksamkeit zu schenken, wie B.S. Mühe aufbrachte, es zu
verfassen, würde uns dem jeweiligen Anderssein von uns Menschen um
ein Beträchtliches näherkommen lassen.
Weitere Besprechungen zu Werken von Birger Sellin siehe:
Birger Sellin: Ich will kein Inmich mehr sein (1993 hrsg. von Michael Klonovsky)
Birger Sellin: ich deserteur einer artigen autistenrasse (1995)