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Neues vom "deserteur einer artigen autistenrasse"
Michael Klonovsky hat das zweite Buch von Birger Sellin herausgegeben.
Der "deserteur einer artigen autistenrasse" sendet mit seinen vom Januar
1993 bis Dezember 1994 abgespeicherten Texten "neue botschaften an das
volk der oberwelt". Auch hierin finden sich wieder Gedichte, oder genauer:
Gedankenverdichtungen, die nicht nur ins Herz treffen, sondern schlicht
in Erstaunen versetzen - und dies unabhängig vom Kontext der Behinderung
des Autoren.
"... ausdrucksstark sind meine aussernebeldenkweisen/jetzt aber herrscht
nebel". Nach der ersten Euphorie, daß es Birger Sellin als "stummen
Autisten" überhaupt gelingt, mit seiner Umwelt wieder in Kontakt
zu treten, folgt die subjektive Enttäuschung, daß seine Entwicklung
nun nicht weiter in Sieben-Meilen-Stiefeln voranschreitet. Immer wieder
die Frage, warum er nicht wie alle anderen "ein einfacher Mensch"
sein kann. Von außen betrachtet, und in seinen "ruhigen" Momenten
auch ihm selbst bewußt, dokumentiert sich aber in den Texten erstaunlich
viel Leben:
Sein erstes Buch wird veröffentlicht; das Fernsehen zeigt
eine Dokumentation über ihn; hunderte von Briefe erreichen ihn; er
schafft es sogar, für zweieinhalb Monate ohne Schreianfälle die
11. Klasse eines öffentlichen Kollegs für Erwachsenenbildung
zu besuchen, um sich, nun allerdings im Einzelunterricht, auf das Abitur(!)
vorzubereiten. Sein größtes Erfolgserlebnis jedoch hat er, als
es ihm nun auch gelingt, einzelne Wörter ohne Unterstützung von
"Facilitated communication" in den Computer zu tippen.
(Erst kürzlich
hat er sogar dies noch einmal übertroffen, indem er sich dank Stern-TV
seinen Wunsch erfüllte, in einem live-Interview mit Günter Jauch
per Computer der "Außenwelt" direkt gegenüberzutreten.)
Die "Außenwelt" ist neben dem Superlativ an Anerkennung aber auch
für eine der größten Enttäuschungen "gut",
und diese wird ebenfalls in Birger Sellins Texten reflektiert: Nicht nur
der "Spiegel" behauptete, die Texte seien nicht von ihm, sondern von seiner
"ehrgeizigen" Mutter verfaßt.
Nach einem Test, der für
Birger Sellin seinerzeit noch eine "Tortur dritten Grades" darstellte,
nahm der "Spiegel" diese Behauptung dann immerhin zurück. Stellt man
sich die Frage, was längere Zeit in Anspruch nehmen wird: Die Bereitschaft
einer "Mehrheit" sich ernsthaft auf die Vielfalt eines jeden Einzelnen
von uns einzulassen oder, bei allen Schwankungen und Beschränkungen,
die Entwicklung Birger Sellins, dürfte der junge Autor eindeutig die
besseren Karten in der Hand halten.
Weitere Besprechungen zu Werken von Birger Sellin siehe:
Birger Sellin: Ich will kein Inmich mehr sein (1993 hrsg. von Michael Klonovsky)
Birger Sellin: ich deserteur einer artigen autistenrasse (1995)