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Der Ich-Erzähler lernt Gustavo Roderer erst kurz vor dem Abitur kennen und fühlt sich von ihm alsbald zu einem Wettstreit provoziert, der mit einer Schachpartie beginnt und sich zu einem Messen ihrer beider Intelligenz auf den Gebieten der Literatur, der Philosophie, der Logik und der scheinbar alles überwindenden Mathematik ausweitet. Doch Gustavo liegt an keinem Wettstreit, er ist viel zu sehr mit sich und seiner Gedankenwelt beschäftigt. Und auch ihr gemeinsamer Lehrer Dr. Rago entzieht einem solchen Vergleich den Boden, als er dem Ich-Erzähler eine assimilierende Intelligenz zuordnet, die "vertrauensvoll vorangeht und von anderen aufgestellte Beziehungen und Analogien selbstverständlich anerkennt, die im Einverständnis mit der Welt ist und sich in allen geistigen Domänen in ihrem Element fühlt." Dies sei die Intelligenz der sogenannten Begabten, die sich am besten mit der Welt arrangiert. Roderers Intelligenz hingegen empfindet gewohnte geistige Bahnen, gängige Argumente, alles Bekannte und Bewiesene als befremdlich, häufig sogar als feindlich. Für ihn ist nichts "normal". Ob er dem Wahnsinn verfällt und womöglich Selbstmord begeht oder es ihm gelingt, auf ganz eigene Weise neu zu sehen und zu dem höchst seltenen Fall eines allseits bewunderten Genies wird, bleibt abzuwarten ...
Guillermo Martinez hat in seinem Frühwerk von 1992 eine so dichte wie vielschichtig tragische Novelle über Intelligenz und ihren Wert an sich verfasst.
Marcel Reich-Ranicki verbreitete ja gern des Öfteren das Bonmot, wonach kindliche oder gar dumme Helden keine Grundlage für intelligente Prosa sein kann - der Umkehrschluss davon wird in "Roderers Eröffnung" nun sehr eindrucksvoll bestätigt. Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite, gelingt Roderer am Ende ein entscheidender Durchbruch - dennoch kommt es für ihn anders, als von Dr. Rago vermutet.
Wie der Autor hier beiden Figuren Leben einhaucht und sie aufeinander treffen lässt, dabei die Zweifel oder auch Triumphe und Niederlagen des Einen gegen die des Anderen stellt, wird zur brillanten Anschauung des Lebens und eröffnet jede Engführung hinter sich lassende Sinnfragen.
Weitere Besprechungen zu Werken von Guillermo Martínez siehe:
Guillermo Martínez: Die Pythagorasmorde
Guillermo Martínez: Der langsame Tod der Luciana B.
Guillermo Martínez: Roderers Eröffnung