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Michaels Großvater sah fürchterlich aus. Das Gesicht von Verbrennungen entstellt, hatte er nur noch dreieinhalb Finger an der einen Hand und an der anderen gar keine mehr. Als Michael noch kleiner war, war sein Großvater immer wieder die Hauptperson eines immer gleichen Albtraums. Doch das Aussehen war für Michael gar nicht das Schlimmste. Er hätte sich seinen Großvater bei seinen wenigen Besuchen gern genauer angesehen - aber den Großvater bei Tisch "anzustarren", verboten ihm seine Eltern, die auch nicht mit Michael über Großvaters Verletzungen reden wollten, selbst wenn er gar nicht dabei war. Dieses Ausschweigen fand Michael besonders schlimm. Aber Michael hörte nicht auf sich zu fragen, was damals eigentlich im Zweiten Weltkrieg genau geschehen ist und wie sich der Großvater diese schrecklichen Verletzungen zugezogen hatte. Es sollte einige Zeit vergehen, bis Großvater von sich aus das Schweigen brach und Michael davon erzählte …
Michael Morpurgo ist ein mehrfach preisgekrönter Kinder- und Jugendbuchautor und zuletzt durch die für den Oscar nominierte Verfilmung von "Gefährten" auch einem breiteren Publikum bekannt geworden. In "Nur Meer und Himmel" erzählt er die Geschichte seines Großvaters, die auch seine eigene Lebensgeschichte mitgeprägt hat. Herausgegeben von Tilman Spreckelsen in der Reihe "Bücher mit dem blauen Band", ist sie nun im Gedenken an das sich zum siebzigsten Mal jährende Kriegsende von 1945 erschienen.
Ausgehend von dem Albtraummotiv seiner frühesten Kindheit entfaltet Mopurgo mit großer Sogkraft, wie das Ausschweigen eines in seinen Auswirkungen offensichtlichen Traumas dieses Trauma immer größer macht und am Ende nicht nur den Verletzten sondern die ganze Familie leiden lässt. Nichts Außergewöhnliches, waren doch gerade die äußeren wie inneren Verletzungen der Überlebenden des Zweiten Weltkrieges für nicht wenige Familien über Jahrzehnte hinweg bestimmend.
Zum für junge Leser ermutigenden "Gegenmittel" wird das Enkelkind, das weniger als die Erwachsenen weiß, aber umso genauer spürt, was notwendig wäre. Und genau das wiederum erleichtert dem Großvater, eine Brücke zu schlagen und sich zu öffnen. Ein glückliches Ende, das aber nicht zuletzt auch die Augen dafür öffnet, wie wichtig das Bewahren des Friedens ist, um kriegsbedingte Verletzungen erst gar nicht entstehen zu lassen.
Gemma O'Gallaghan hat das Buch mit Siebdrucken illustriert, die mit ihren Pastellfarben und der Linienführung an die 1950er und damit in etwa an die Kinderzeit Morpurgos gemahnen, ohne dabei altbacken zu wirken - im Gegenteil, diese Bilder sind von großer Eindringlichkeit, lassen aber der Phantasie genügend Spielraum, anstatt sie durch allzu große Detailgenauigkeit einzugrenzen.
Insgesamt ein Buch, das auch wegen der "unruhiger" gewordenen Gegenwart mit seinen Flüchtlingen aus aktuellen Kriegsgebieten wichtig und bemerkenswert ist - nur schade, dass seine schön gestaltete Ausstattung ihren Preis hat. Dabei würde es sich auch sehr gut für den Einsatz in den Schulen eignen …
Weitere Besprechungen zu Werken von Michael Morpurgo siehe:
Michael Morpurgo: Die Sache mit Billys Knie (2000)
Michael Morpurgo: Die schwarze Hexe (2001)
Michael Morpurgo: Toro! Toro! (2002)
Michael Morpurgo: Das schlafende Schwert (2003)
Michael Morpurgo: Nur Meer und Himmel (2015)