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Im Jahre 1890 wird ein Segelschiff überfallen und die ganze Mannschaft
getötet. Nur eine deutsche Fürstin und ihr zehnjähriger
Sohn Thomas können sich auf die arabische Insel Hulm retten. Die Beherrscher
Hulms nehmen beide herzlich auf, und Thomas wird bald ein enger Freund
des gleichaltrigen Prinzen Hakim. Ein Paradies auf Erden, vergehen die
nächsten zehn Jahre wie im Flug. Innerhalb der internationalen Machtkämpfe
entzog sich die Insel bislang geschickt jeder Begehrlichkeit. Doch dann
stirbt der Vater, und Hakim muß sich als neuer Sultan um die Amtsgeschäfte
kümmern. Thomas, nun Tuma genannt, steht ihm als Helfer und Berater
zur Seite. Trotz ihrer Jugend erkennen beide, daß die politische
Isolation nicht mehr lange aufrechtzuerhalten ist. So beschließen
sie neben dem Bau eines größeren Hafens auch ein "Haus der
Weisheit" einzurichten. Eine Auswahl der besten europäischen Bücher
soll der Jugend ein Verständnis für die Seele fremder Kulturen
ermöglichen. In die verschiedenen Länder werden Kundschafter
entsendet, die dann einer Prüfungskommission zu berichten haben. Zurück
von seiner Reise aus Deutschland, unter anderem auch Heine, Nietzsche und
Schopenhauer im Gepäck, wirbt Tuma als erstes für den "Fürsten
der deutschen Dichter und Denker" Goethe.
Die Rahmenhandlung von knapp zwanzig Seiten gibt dem 130-seitigen Bericht
Tumas eine wirkungsvolle Klammer. Das fiktive Hulm spiegelt die sie umgebende
politische Realität zu Anfang des 20.Jahrhunderts und eröffnet
zugleich einen Dialog zwischen Orient und Okzident. Damit haben sich Rafik
Schami und Uwe-Michael Gutzschhahn einen mitreißenden, Jubiläums
unabhängigen Erzählgrund aufgebaut, das vielfältige Werk
Goethes ins Spiel zu bringen. Die Klammer wirkt in dem Bericht nämlich
fort, die Kommission bleibt nicht stumm, sondern reagiert temperamentvoll
auf das Vorgetragene und erwidert es immer wieder mit Beispielen aus dem
eigenen Kulturkreis. Und die durchaus differenzierende Begeisterung Tumas
für Goethe steckt an. Daß ihm die Kommission für seinen
Vortrag anstelle der üblichen maximal sieben gleich neun Nächte
zugesteht, werden auch die Leser nachvollziehen. Denn Tuma, oder vielmehr
das Autorengespann Schami/Gutzschhahn findet genau das richtige Maß
für Zitate, Zusammenfassungen und zuweilen auch um Anekdoten angereicherte
Einschübe.
Werden "Die Leiden des jungen Werther" noch ein wenig zwiespältig
aufgenommen, stoßen "Wilhelm Meisters Lehrjahre", die Fabel von "Reineke
Fuchs" und die im Anschluß vom "Zauberlehrling" rezitierten Naturgedichte
auf große Gegenliebe. Goethes "Faust" wird ebenfalls hoch geschätzt,
soll dann aber doch nur älteren Jugendlichen zugänglich gemacht
werden. In den Wahlverwandtschaften erkennt man nach der absoluten Liebe
Werthers die Erweiterung des Themas um die Frage nach der Treue. Es folgt
ein Exkurs über Goethes Farbenlehre, die zwar Interesse findet, aber
als bereits überholt angesehen wird. Der "West-Östliche Divan"
und nicht zuletzt die Überlieferungen seiner erstaunlich respektvollen
Wahrnehmung von Kindern lassen Goethes Werke schließlich mit Bravour
Einzug in das "Haus der Weisheit" halten.
Dem schließt sich noch das ernüchternde Ende der Rahmengeschichte
an, Prinz Tumas Anhang einer in der Kürze etwas zu kritiklos geratenen
Goethe-Biographie sowie eine Liste mit Tips zu Büchern, Theateraufführungen
auf Videos und Hörbeispielen auf CDs.
Dieser anregende, neugierig machende und Horizont erweiternde Überblick
auf das Schaffen Goethes ist für Jugendliche ab 16 Jahren aufs wärmste
zu empfehlen. Lesegeübt und bereits von sich aus an Goethe interessiert,
könnten hierbei sogar auch jüngere auf ihre Kosten zu kommen.
Weitere Besprechungen zu Werken von Rafik Schami siehe:
Rafik Schami: Reise zwischen Nacht und Morgen (1995)
Rafik Schami & Uwe-Michael Gutzschhahn: Der geheime Bericht über den Dichter Goethe (1999)
Zwei Kürzesthinweise als Sampler:
Rafik Schami: Der Schnabelsteher (1995)
Rafik Schami: Fatima und der Traumdieb (1996)
Weitere Besprechungen zu Werken von Uwe-Michael Gutzschhahn siehe:
Uwe-Michael Gutzschhahn: Betreten verboten (1995)