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Der Ich-Erzähler Joseph Ivri erinnert sich, wie seine verwitwete Mutter vor über fünfzig Jahren eine elegante Dame in ihrem Haus aufgenommen hat. Eva Laquedem war die Tochter eines bekannten Prager Schriftgelehrten und hatte auf ihrer Flucht u.a. eine kostbare illustrierte Handschrift aus dem 15. Jahrhundert vor dem Zugriff der Nazis gerettet. Alle drei, die Mutter, Joseph und sein jüngerer Bruder Asa, der nach und nach erblinden wird, sind schon bald ganz hingerissen von Eva. Sie spricht sieben Sprachen, weiß sich mit großer Einfühlsamkeit auf jeden einzelnen einzustellen und wunderbare Geschichten zu erzählen. Und noch lange, nachdem sich Eva von ihnen verabschiedet hat, meint Joseph sie immer wieder für einen Augenblick zu sehen ...
Das Bessere ist des Guten Feind - warum also partout originell sein wollen und nicht gleich Bernhard Schlink zitieren, der über dieses Buch sagt: 'Ein wunderbares Buch über den langen Schatten der Vergangenheit, die Zerbrechlichkeit der Gegenwart und die versöhnende Kraft stiller Liebe.'
Aryeh Lev Stollman hat bereits mit 'Der ferne Euphrat' seine hohe Sprachfertigkeit und Erzählkunst bewiesen und diese Einschätzung mit seinem neuen Roman 'Im Spiegel meiner Seele' glanzvoll bestätigt.
Vor dem Hintergrund der gerade erst beendeten Schreckensherrschaft, der auch Evas Vater zum Opfer gefallen ist, entwickelt die Zufallsbegegnung ein Band, das weit in die Zukunft reichen soll. So vermag Eva allen Ivris neues Selbstbewußtsein zu geben: Der scheinbar einfältigen, jedoch wissbegierigen Mutter attestiert sie Gelehrsamkeit, dem 10-jährigen Asa eröffnet sie einen angstfreien Weg mit seinem letzten Augenlicht umzugehen und an dem vier Jahre älteren Joseph schätzt sie seine Zuverlässigkeit - doch vermag sie nur wenig gegen seine sehr zart angedeutete erste Liebe und der ihr innewohnenden Eifersucht auszurichten, was Folgen hat. Aber die Ivris verhelfen auch Eva zu neuen Erkenntnissen über die besagte Handschrift und das Schicksal ihres Vaters. Wir als Leser erfahren von der Wichtigkeit der genauen Wahrnehmung und des Bezeugtwerdens. So wurden nicht zuletzt auch wegen der vergangenen Greuel die verbliebenen schriftlichen Zeugnisse jüdischen Glaubens zu einem existentiellem Quell der Erneuerung.
Mosaische Weisheitsliteratur neben japanischer Dichtkunst, kleinliche Nachkriegsbürokratie und Pubertätserfahrung verweben sich hier zu einem mitreißenden Leseerlebnis: Meisterhaft komponierte, makellose Prosapoesie, traumhaft schwebend, gleich einem Bild von Chagall, ohne je den Bodenkontakt zu verlieren. Dafür Stollman zu rühmen meint hierbei zugleich die ausgezeichnete Übersetzung von Gisela Stege zu loben. Ein Buch, das auch eine zweite und dritte Lektüre zum Vergnügen machen wird.
Weitere Besprechungen zu Werken von Aryeh Lev Stollman siehe:
Aryeh Lev Stollman: Der ferne Euphrat (1998)
Aryeh Lev Stollman: Im Spiegel meiner Seele (2002)