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In den sechziger Jahren wächst Alexander als Sohn eines Rabbi unweit
der US-amerikanischen Grenze in Kanada auf. In der beschaulichen Kleinstadt
Windsor sind neben dem Vater und der ängstlichen Mutter auch noch
die Frau des Kantors, der Kantor selbst und dessen Zwillingsschwester Hannalore
wichtige Bezugspersonen für Alexander. Alle geben ihr Möglichstes,
um dem Jungen Geborgenheit zu vermitteln - dennoch gibt Alexander erst
als frischgebackener Student seine Zurückgezogenheit auf und vermag
in all diesen Personen "Gottes Gnade und liebende Freundschaft"
vereinigt sehen.
Aryeh Lev Stollman läßt den Leser an der Innenschau eines
Kindes teilhaben, das den Reifeprozeß vom 10. bis zum 18. Lebensjahr
als Initiationskette erfährt. Aber nicht die üblichen Riten erwachender
Sexualität werden hierbei zur Offenbarung, sondern das Gewahr- und
Ertragenlernen tragischer Geheimnisse. Dieses Reifen und Durchschauen geschieht
bei Alexander deshalb auch nicht in spektakulären Rebellionsschüben
oder ironisierend egozentrischer Nachbetrachtung, sondern es setzt auf
genaue Bobachtung von Episoden, die erst zum Ende hin ihre melancholische
Zuspitzung finden. Die Konstruktion des sich zurücknehmenden, wenn
nicht gar mutistischen Ich-Erzählers macht aus allen eingeführten
Personen gleichgewichtige Handlungsträger. Obwohl allesamt höchst
eigenwillig, zuweilen scheinbar sogar eigensüchtig, gerät auch
der Leser zu keiner Zeit in die Position des verurteilenden Richters. Es
ist, wie es ist - alles ist Teil einer Geschichte. Als Alexander sich schließlich
mit sechzehn auf "Zimzum" begibt und neun Monate lang sein Zimmer
tagsüber nicht mehr verläßt, ist man denn auch weniger perplex als
gespannt, wohin das letztendlich noch führen mag.
Sprachlich von poetischer Dichte werden nach und nach die Geheimnisse
erkennbar, mit denen Nachgeborene von Holocaust-Überlebenden ihr Leben
lang zu kämpfen haben. Aryeh Lev Stollman hat es verstanden, diesem
Kampf eine Form zu geben, die es auch uns anderen erlaubt, mit ein wenig
mehr Verständnis daran teilzuhaben.
Weitere Besprechungen zu Werken von Aryeh Lev Stollman siehe:
Aryeh Lev Stollman: Der ferne Euphrat (1998)
Aryeh Lev Stollman: Im Spiegel meiner Seele (2002)