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Was kann ein Fünfzehnjähriger tun, wenn ihn die Eltern offensichtlich
liebhaben, es mit ihren Ratschlägen und Anweisungen nur gut meinen
und er sich trotzdem dauernd "irgendwie" genervt fühlt? Arian
hat alles, was er braucht: Ein eigenes Zimmer und so viel Taschengeld,
daß er sogar in relativ kurzer Zeit mal eben tausend Mark ansparen
kann. Die tausend Mark hat er in den Taschen seiner Jeans verteilt, einen
Riesenrucksack mit allem Überlebensnotwendigen einschließlich
dem Nutellaglas gepackt, und jetzt wartet Arian darauf, daß seine
Eltern endlich nach dem gemeinsamen Gekichere und Gestöhne im Schlafzimmer
ins Bad gehen und sich endgültig zur Ruhe begeben. Dann ist es soweit,
und er findet sich eine Viertelstunde zu früh am verabredeten Treffpunkt.
Um halb Drei Uhr nachts würde es losgehen, ab in die weite Welt, wo
ihm keiner vorkaut, was er tun und lassen sollte. Rüdiger kommt jedoch
zehn Minuten zu spät. Aus einem Heim für Verhaltensauffällige
zu entkommen, ist nicht so einfach. Außerdem ist Rüdiger am
Arm verletzt und hat in der Zeit ein Moped "organisiert". Arian
wird es nun doch ein wenig mulmig. Zu recht, denn die knapp dreißig
Kilometer zum Hamburger Hafen ziehen sich ganz schön in die Länge,
wenn man so müde ist und stets vor Verfolgern auf der Hut sein muß.
Nach dem Debut-Erfolg von "Veit und ein anderer Tag" liegt mit "Zwei
Fluchten" nun das zweite Jugendbuch des gebürtigen Berliners Andreas
Venzke vor. Ihm gelang darin sehr überzeugend die gestraffte Variation
eines alten Themas. Während Arian für all jene behüteten
und umsorgten Jugendlichen steht, denen nicht zuletzt wegen der langjährigen
theorielastigen Schulzeit der Kitzel existenzieller Bewährungsproben
fehlt, sieht das einstige Findelkind Rüdiger in seiner Flucht die
einzige Chance, dem Teufelskreis einer "Heimkarriere" zu entkommen.
Es erweist sich, daß Arian trotz seines Geldes und seines dickbepackten
Rucksacks für so ein Unternehmen nur unzureichend vorbereitet ist
und sich schon bald in einer neuen Abhängigkeit sieht. Anstelle der
Eltern ist es nun Rüdiger, der ihm sagt, wo es langzugehen hat. Hie
Ängstlichkeit und nur selten belastete Werte des Bildungsbürgertums,
da Improvisationstalent und nüchterner Egoismus. Ihre Gegensätze
werden Jugendliche einen gemütlichen Lesenachmittag lang mit Vergnügen
und Gewinn auskosten, denn Venzke verstand es einmal mehr, ohne jede Moralinsäuernis
eine fesselnde Geschichte zu erzählen, die Gelegenheiten für
potentielle Situationskomik zu nutzen und die Dialoge zwischen den Jugendlichen
authentisch zu gestalten.
Gerade wegen seines knappen Umfangs bietet sich dieses Buch auch sehr
gut als gemeinsam zu erschließende Klassenlektüre in der Sekundarstufe
I an.
Weitere Besprechungen zu Werken von Andreas Venzke siehe:
Andreas Venzke: Veit und ein anderer Tag (1996)
Andreas Venzke: Zwei Fluchten (1997)