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Die 14-jährige Charlene, genannt Charlie, zieht nicht selten die Welt ihrer Mangas der realen vor - die Lehrkräfte sind oft unverständig und nur auf die Stoffvermittlung bedacht, ihre Mitschüler verstecken ihr wahres Gesicht, um nur ja nicht als uncool zu gelten, und zu Hause scheint ebenfalls jeder nur seine eigenen Wege zu gehen, ohne Interesse an ihr zu haben ...
Die für ihr Buch "Simpel" mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete französische Schriftstellerin Marie-Aude Murail erweist sich mit der dieses Jahr vorgelegten Übersetzung von "Vielleicht sogar wir alle" erneut als eindrucksvolle Botschafterin ihres Landes. Vorzüglich von Tobias Scheffel ins Deutsche übertragen, weicht sie hierin von der üblichen Zentrierung auf einen jugendlichen Ich-Erzähler ab. Mit jedem Kapitel wechselt die Perspektive und lenkt den Blick gleichermaßen auf Charlie, den kleinen Bruder Esteban sowie auf ihre Eltern Nadine und Marc. Alle vier sind gerade derart mit sich selbst beschäftigt, dass nur noch die eingespielten Routinen die Familie zusammenhalten. Doch wer nun eine Zusammenschau trübsinniger Familienverhältnisse erwartet, wird angenehm enttäuscht. Denn alle vier Protagonisten sind auf ihre Weise sehr stark. Und die Autorin versteht es, bei allen vieren deren Innenansichten mit nicht wenig Situationskomik auf die Außenwelt treffen zu lassen.
So hält sich Charlie vordergründig mit ihrer Beobachterrolle bedeckt, würde aber insgeheim sehr gern Teil dieses Jungen-Mädchen-Spiels, das in ihrer Klasse immer mehr Raum einnimmt.
Ihr Bruder Esteban reagiert auf heftige Mobbing-Erfahrungen in der Schule mit immer phantastischeren Erfindungen, die er sich in Bildern ausmalt.
Nadine ahnt durchaus die Probleme ihrer Kinder, ist aber als Vorschullehrerin mit Ansprüchen an sich selbst und von anderen beschäftigt, die ihr kaum Zeit lassen, auch nur den Einladungen der Esteban betreuenden Psychologin nachzukommen.
Marc hingegen, vom Lastwagenfahrer zum Filialleiter einer Spedition aufgestiegen, sieht sich der Dynamik einer brutal aussortierenden Markwirtschaft ausgesetzt, die seine Rolle als fürsorglicher Macho aushebelt und ihn am liebsten alles hinschmeißen lassen will.
Wie diese vier dann am Ende dank mongolischer Jurten eine neue gemeinsame Perspektive finden, ist ein Leseerlebnis voll französischen Charmes, der nicht nur jugendliche Leser wegen seines so humorvollen wie anrührenden Esprits für sich einzunehmen vermag.
Weitere Besprechungen zu Werken von Marie-Aude Murail siehe:
Marie-Aude Murail: Von wegen, Elfen gibt es nicht! (2002)
Marie-Aude Murail: Simpel (2007)
Marie-Aude Murail: Über kurz oder lang (2010)
Marie-Aude Murail: Vielleicht sogar wir alle (2012)
Marie-Aude Murail: Blutsverdacht (2012)
Marie-Aude Murail: 3000 Arten Ich liebe dich zu sagen (2015)