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Ein jüdisches Leben in Deutschland - für den in München
geborenen Richard Chaim Schneider, Jahrgang '57, war und ist das ein Leben
in ZWISCHENWELTEN.
"Man redete über Mode, über Freunde, über die Kinder
- das Gespräch endete immer wieder im KZ. Wir Kinder waren dort, ohne
dort gewesen zu sein." Als es im Gymnasium galt, ein Referat über
die Konzentrationslagerwelt vorzubereiten, meinte dann auch sein Lehrer
in beklagenswert dummer Unschuld: "Da Sie Jude sind, Schneider, wissen
Sie ja besser als die anderen Schüler, wie es dort gewesen ist."
Trotz vieler solch ausgesprochenen Unsäglichkeiten war der Autor
auf dem "besten" Wege, sich mehr und mehr zu integrieren, d.h. wie die
meisten seines Alters, kümmerte er sich nicht großartig um religiöse
Herkünfte und Traditionen und war weit mehr seinen künstlerischen
Ambitionen verpflichtet als dem Umstand, Kind eines Shoa-Überlebenden
zu sein. Daß er dann aber kurzfristig ins andere Extrem wechselte,
hatte seinen Auslöser in dem 1985 aufgeführten Fassbinderstück
DER MÜLL, DIE STADT UND DER TOD, das nicht nur dessen subtilen Antisemitismus
entlarvte. Zu jener Zeit selbst als Dramaturg tätig, meinte Schneider
erst noch, die Freiheit der Kunst so hoch einschätzen zu müssen,
daß in einer Demokratie kein Theaterstück verboten werden sollte
- auch das von Fassbinder nicht. Dann aber wurde ihm bewußt, daß
das, was Kohl 1982 als "geistig-moralische Wende" in der Verbindung
mit dem Wunsch nach "Normalität" sprich "bewältigter
Vergangenheit" eingeläutet hatte, auch in seinem durchaus links-liberalen
Freundeskreis Wirkung zeigte. Es beginnt für Schneider die Suche nach
dem "richtigen" Standpunkt, der ihm auch die Entscheidung über
seinen "richtigen" ferneren Aufenthaltsort erleichtern sollte. Aber
auch Israel mit seinem sehr komplexen, keineswegs einheitlich ausgelegten
und -gelebten Judentum kann er nicht so ohne weiteres zu seiner neuen "Heimat"
erklären.
Schneiders Betrachtungen sind in ihrer aufklärerischen Bedeutung
mit Giordanos ISRAEL, UM HIMMELS WILLEN ISRAEL (übrigens nun auch
als preiswertes Taschenbuch bei Goldmann vorliegend) zu vergleichen. Gerade
uns nichtjüdischen Nachkriegsgeborenen wird es oft provozieren - und
noch öfter die Schamesröte ins Gesicht treiben. Offenkundig hat
das Wort Kohls von der "Gnade der späten Geburt" trotz aller
links-intellektuellen Proteste auch deren emotionales Gleichgewicht sehr
zu entlasten vermocht. Unbeschwert jedweden tieferen Durchdringens meinten
wir, schon "irgendwie" die Fehler unserer Eltern nicht mehr zu wiederholen.
Aber so billig ist der Frieden mit sich und der Welt nicht zu haben! Unwissende
Unschuld schützt vor Strafe nicht! Ohne Interesse bzw. Anteilnahme
am Leben des anderen geht es genausowenig wie ohne das Interesse an der
eigenen Herkunft. Für Schneider impliziert dies nun u.a. auch eine
intensive(re) Auseinandersetzung mit dem Judentum als gelebte Religion,
die er in ihren heutigen Ausprägungen von ultra-orthodox bis säkularisiert
liberal sehr anschaulich vorzustellen weiß.
Das nachzulesen und darüber nachzudenken ist spannend und s.o.
auch bisweilen schmerzhaft. Nicht zuletzt deshalb ist es ein gelungener
Ausgangspunkt für weitere Fragen - an den anderen, an mich selbst ...
Weitere Besprechungen zu Werken von Richard Chaim Schneider siehe:
Richard Chaim Schneider: Zwischenwelten (1994)
Richard Chaim Schneider: Fetisch Holocaust (1997)
Richard Chaim Schneider: Israel am Wendepunkt (1998)