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Esther ist alleinerziehende Mutter von Katya. Noch bis vor kurzem hatte
sie geglaubt, mit aufgeklärter antiautoritärer Pädagogik
ihrer Tochter alles Lebensnotwendige mit auf den Weg gegeben zu haben.
Doch die 14-jährige Katya wird in dieser Gesellschaft noch lange nicht
auf eigenen Füßen stehen können. Katya hatte die Vorstellung
entwickelt, von Gott angerührt worden zu sein. Um dieses Erlebnis
gleichsam zu konservieren, unterwirft sich die Jugendliche einem strengen,
selbstauferlegten Fasten und spricht mit ihrer Mutter kein Wort mehr. Schließlich
wird Katya in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, nur um wenig später
daraus zu entfliehen. Neben der Sorge um ihr Kind, beginnt Esther mit ihrer
eigenen Identität in Konflikt zu geraten. Zu lange hatte sie ihre
Biographie als Adoptivkind verdrängt. Der immerwiederkehrende Traum
Esthers, den sie lange Zeit nicht ins Morgen mithinübernehmen kann,
spiegelt ihre Weltflucht anhand eines alter egos, das 600 Jahre zuvor als
Ketzerin gefoltert wurde, weil sie zum falschen Zeitpunkt die richtigen
Fragen gestellt hatte. Ist Katya nun, deren Symptome von allen, auch von
ihr, als religiöse Wahnvorstellung eingeordnet wurden, in einer ähnlichen
Situation wie die Ketzerin?
Jenny Diski, eine Meisterin in der Darstellung menschlicher Obsessionen,
erörtert in ESTHERS TRAUM, warum der menschliche Geist trotz Androhung
schrecklichster Strafen, seine Fragen nicht aufgibt. Dazu spielt sie auch
mit Irritationen, wenn z.B. die "Ketzerin" vergewaltigt und diese
Vergewaltigung auch noch gegen das Opfer als weiterer "Beweis" ihrer Ketzerei
mißbraucht wird, Esther aber in der Realität ihren Therapeuten
mit pseudoemanzipierten Argumenten in Schutz nimmt, obwohl der ihre Hilfbedürftigkeit
ausnutzt und sie gegen ihren Willen "beschläft". Die Autorin
gibt jedoch keine weisen Antworten, sondern bleibt in der Rolle der Chronistin
von den Traumwelten ihrer Protagonistinnen und ihren jeweiligen Realitäten.
Die Ausgestaltung des Fiktiven, des nicht wirklich Greifbaren dient ihr
als Beschreibungsmodell unserer Wirklichkeit, in der so viel Unverständliches
und Grausames scheinbar ganz selbstverständlich nebeneinander existiert.
Wer dieses Buch liest, gerät in einen Sog, der sie/ihn erst auf der
letzten Seite wieder loslassen wird.
Weitere Besprechungen zu Werken von Jenny Diski siehe:
Jenny Diski: Küsse und Schläge (1989)
Jenny Diski: Regenwald (1990)
Jenny Diski: Mutterkind (1992)
Jenny Diski: Esthers Traum (1994)