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Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt anzutun und Fotos mit Darstellungen davon ins Netz zu stellen - an den Untersuchungen solch bereits konkret aufgedeckter Zusammenhänge sollte sich Ben Neven als leitender Kriminalermittler eigentlich intensiv beteiligen. Doch er ist abgelenkt. Wiewohl Familienvater und als glücklich verheiratet geltend, fährt er einmal die Woche über 200 Kilometer zu einem Parkplatz, um dort einen minderjährigen Jungen zu treffen. Als Kunde …
Mit "Einer von den Guten" schließt Jan Costin Wagner eine Trilogie ab, die im ersten Band mit einem Ermittler-Duo begann, sich aber spätestens ab dem 2. Band vorrangig an der Figur Ben Neven abarbeitet.
Der erste Band erschien ziemlich genau zu Beginn der Corona-Krise, landete alsbald auf der Krimibestsellerliste und bekam sogar verspätet den Radio-Bremen-Krimipreis 2020 nachgereicht. Und auch der zweite Band wurde immerhin für den Glauser-Preis als bester deutschsprachiger Krimi nominiert.
Beide Würdigungen m.E. völlig unangebracht!
Zum ersten Band schrieb ich (siehe hier) abschließend: "Für sich allein vermag dieser Roman also nicht zu überzeugen und fällt mit seinem, wenn schon nicht inhaltsleeren, so doch nur fragmentarisch befüllten "poetischen" Duktus weit von den Kimmo-Joentaa-Romanen ab. Bleibt nur noch die kleine Hoffnung, dass Wagner daraus im Folgeroman einen Phönix aufsteigen lässt."
Da der zweite Band den ersten aber qualitativ sogar unterbietet, habe ich den gar nicht erst besprochen und mich auf diesen dritten allein deshalb wieder eingelassen, um zu sehen, ob und wie sich der Autor endlich von dieser völlig verunglücktem Figur Ben Neven befreit.
Eine Erleichterung immerhin, dass der dritte Band lediglich 200 Seiten umfasst. Bei denen davor waren es 320 und 304 Seiten. Dennoch müßig die Frage, ob der Autor das Ganze z.B. von über 800 Seiten auf maximal die Hälfte hätte eindampfen sollen. Angesichts der offenkundig von vorneherein sehr unschlüssigen und konzeptionslosen Anlage dieser Trilogie kann hier leider nur von einer in jeder Hinsicht verzichtbaren Totgeburt die Rede sein.
So schickt der Autor den dritten Band mit den Worten auf den Weg: "Ich wollte das ‚Monster' zeichnen, ohne den ‚Menschen' preiszugeben. Weil ich davon überzeugt bin, dass wir unbedingt dahin gehen müssen, wo es wehtut, um präventiv wirken und wichtige Diskurse führen zu können."
Davon ist Wagner leider nichts gelungen.
Der dritte Band wird in der Hauptsache von zwei Erzählsträngen gehalten, dem aus der Perspektive Ben Nevens und dem aus der Perspektive des dreizehnjährigen Adrian.
Wagner erspart der Leserschaft zwar die Details der sexuellen Übergriffe Nevens, aber er vermag auch sonst nichts über das Woher, das Seit-wann und ein womöglich die Figur Nevens prägendes Warum (oder dessen Fehlen) für seine Übergriffe zu erläutern. Die kurzatmig resp. in kurzen Sätzen in Szene gesetzte Dringlichkeit von Nevens Begierde wirkt austauschbar mit der eines Drogensüchtigen, der nach seinem nächsten Schuss giert. Insofern vermochte Wagner auch keineswegs Neuland auszumessen und ins Menschsein zu etablieren, sondern lediglich sattsam bekannte Stereotypen wiederzukäuen.
Das Gleiche gilt für den Erzählstrang aus der Perspektive Adrians, der sogar schwächer, weil perfider ist. Denn er wird einerseits als Junge rumänischer Herkunft vorgestellt, der kaum Deutsch und auch in seiner Heimatsprache weder wirklich schreiben noch lesen kann, andererseits wirkt er mit seinen 13 Jahren schon so taff, dass er seine erwachsenen Kunden inkl. Ben Neven besser einschätzen kann als sie ihn. Und was die sexuelle Gewalt gegen ihn angeht, wird das "poetisch" verkürzt auf den Tipp eines mitleidenden "Kollegen", wonach man "die Welt wie einen Ort betrachten soll, den es nicht gibt, und sich selbst wie eine Person, die einfach nur Stoff ist. Materie."
Im Wortsinn ausgesprochene Ängste Adrians richten sich denn auch ausschließlich gegen seinen Vater Lukian, der für sich und seinen Saufkumpanen regelmäßig die Einnahmen Adrians einfordert. Und was es soll, wenn es zu Adrian am Ende heißt, dass er inzwischen dreizehneinhalb Jahre zählt, weiß allein der Autor …
Vor diesem Hintergrund, wie bereits mehrfach auch schon in der Presse nachzulesen, dem Autor "Mut" für das Angehen dieser Thematik zuzusprechen, wirkt wie Hohn und vermag sich allein durch die Verweigerung jedweder tiefergehenden Auseinandersetzung mit der Problematik sexueller Gewalt gegen Kinder zu erklären. Angesichts der Vielzahl von Gründen, warum insbesondere Männer in diesem Zusammenhang zu Tätern werden können, sehr selten Genaueres zu wissen, ist keine Schande - aber die Bewerbung und Auszeichnung eines Autors für so eine flache Figur wie Ben Neven stimmt umso bedenklicher, wenn nicht schlicht fremdpeinlich.
Bleibt am Ende lapidar das Scheitern einzuräumen, diesem Werk von Jan Costin Wagner auch nur ein wenig Empfehlenswertes abgewinnen zu können.
Weitere Besprechungen zu Werken von Jan Costin Wagner siehe:
Jan Costin Wagner: Eismond (2003)
Jan Costin Wagner: Das Schweigen (2007)
Jan Costin Wagner: Im Winter des Löwen (2009)
Jan Costin Wagner: Das Licht in einem dunklen Haus (2011)
Jan Costin Wagner: Tage des letzten Schnees (2014)
Jan Costin Wagner: Sonnenspiegelung (2015)
Jan Costin Wagner: Sakari lernt, durch Wände zu gehen (2017)
Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht (2019, Ben Neven 1/3)
Jan Costin Wagner: Einer von den Guten (2023, Ben Neven 3/3)